Warum Einsatz nicht übertrieben war

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Übertrieben? Der Einsatz wegen des ausgelaufenen Reinigungsmittels in der Poststation sorgt für Diskussion. „Nicht übertrieben“, sagt Markus Ruckdeschel, Leiter der Integrierten Leitstelle in Bayreuth. Denn es hätte viel schlimmer sein können als zunächst vermutet. Die Pegnitzer Polizei ermittelt gerade, wie es zu dem Vorfall kommen konnte.

 
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Im Umfeld der Postumladestation in der Sauerbruchstraße herrschte am Donnerstagvormittag Hochbetrieb – rund 75 Rettungskräfte waren im Einsatz. Foto: Ralf Münch Foto: red

Bei der Integrierten Leitstelle (ILS) in Bayreuth gehen alle Notrufe der 112 aus der Region Bayreuth/Kulmbach ein. Auch am Donnerstag, kurz vor 9 Uhr. Kurz vorher war in der Poststation ein Päckchen mit zwei Dosen auf den Boden gefallen. Alltag. Doch aus dem Päckchen lief eine Flüssigkeit aus. Und plötzlich ging es zwei Postlern schlecht.

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Lange Liste von Schlagworten

Die Alarmierungsplanung wird für die Feuerwehr von den Kreisverwaltungsbehörden und für den Rettungsdienst vom Zweckverband für Rettungsdienst und Feuerwehralarmierung gemacht, die Leitstelle wirkt federführend mit und setzt die Vorgaben im Einsatzleitsystem um. Auf der langen Liste von Schlag- und Stichwörtern für Feuerwehr und Rettungsdienst sind nahezu alle denkbaren Einsätze abgebildet. Der Disponent hat sich für die beiden Begriffe „Gefahrstofffund klein“ und „RD 3 – das steht für zwei bis drei Verletzte“ entschieden. Das sei richtig gewesen, sagt Markus Ruckdeschel und erinnert an die vielen Briefe mit weißem Pulver, die vor Jahren unterwegs gewesen waren und für Einsätze sorgten. Auf die Begriffe „Gefahrstofffund klein“ und „RD 3“, das ist alles festgelegt,  erfolgt die Disposition der benötigten Einsatzfahrzeuge und Retter, die an die Gefahrenstelle geschickt werden.

Starke Belastung

Nach Pegnitz schickten Ruckdeschels Mitarbeiter den Pegnitzer Löschzug. Zusätzlich – auch das läuft automatisch – rückten zwei Rettungswagen, der Notarzt und ein Einsatzleiter des Rettungsdienstes aus. Dies dient auch der Absicherung der ehrenamtlichen Feuerwehreinsatzkräfte, die in diesem Fall unter dem Chemikalienschutzanzug starken körperlichen Belastungen ausgesetzt sind.

Einsatzleiter entscheidet

Schon als diese in Richtung Pegnitz fuhren, gab es erneut Anrufe in der ILS: Es seien wohl mehr als zwei oder drei Leute betroffen, wie ursprünglich gemeldet. Der auf Anfahrt befindliche Einsatzleiter aus Bayreuth hat also entschieden, noch mehr Retter loszuschicken. In weniger als einer Viertelstunde war die Zahl der gemeldeten Verletzten auf mehr als 20 gestiegen. „Man darf bei einem solchen Einsatz nicht auf kleiner Flamme kochen“, warnt Ruckdeschel, wenn es um Atemwegsreizungen, Übelkeit und  Hautrötungen gehe.

Im Fachjargon: Massenanfall

Vor 20 Jahren hätte man die leicht Verletzten in Ermangelung von Alternativen vielleicht noch in einen Mannschaftsbus gesetzt und improvisiert ins nächste Krankenhaus gefahren. Heute, 2017, heißt das, was in Pegnitz los war: „Massenanfall von verletzten und erkrankten Personen, Stufe 1.“ Zum Vergleich, die nächste Stufe wäre ein Zug- oder Busunglück. Und weil die Autos in und um Pegnitz nicht ausreichten, rückten ehrenamtliche Retter aus dem Amberger und Nürnberger Land dazu. Hierbei wird übrigens nicht unterschieden, ob die Sanitätseinsatzkräfte von BRK, Malteser, Johanniter, von der Berg – oder Wasserwacht kommen. Im Hintergrund lief auch der Leitstelle die Personalverstärkung an, da bei so einem Fall die Behandlungskapazitäten aller in Frage kommenden Krankenhäuser und deren aktuelle Aufnahmekapazität abgeklärt werden.

Durchblick verschafft

Inzwischen aber hatten sich die Retter vor Ort einen Durchblick verschafft – und der zweite angeforderte Rettungshubschrauber drehte wieder ab. „Es waren genügend Ärzte da“, sagt Ruckdeschel. Auch dass die Postler als „proaktive Maßnahme“ ins Krankenhaus zur Untersuchung gefahren wurden, sei folgerichtig, sagt Ruckdeschel. Vor allem im Hinblick auf etwaige Spätfolgen der giftigen Flüssigkeit. Außerdem sei das Haftungsrisiko gerade bei Arbeitsunfällen für die Helfer sehr groß: Deshalb mussten alle zur Untersuchung, nicht nur die zwei, die in der Nähe des Gefahrstoffes waren. „Es war nicht so, dass von Anfang an ein Kreisfeuerwehr-Tag und ein Rotkreuz-Fest gefeiert wurden“, sagt Ruckdeschel. Die Entscheidung der Leitstellenmitarbeiter und der Einsatzleitung vor Ort sei „in keinster Weise zu kritisieren“. Man könne nicht aus der ILS eine Ferndiagnose treffen, warnt Ruckdeschel. „Unsere Methode: lieber mit einer Einheit mehr anrücken und wieder heimfahren.“

Ermittlungen wegen fahrlässiger Körperverletzung

Die Polizeiinspektion Pegnitz untersucht den Vorfall im Paketzentrum: „Wir ermitteln wegen fahrlässiger Körperverletzung – und das in alle Richtungen“, so ihr stellvertretender Leiter Harald Düplois auf Kurier-Anfrage. Denn irgendwo müsse irgendjemand einen Fehler begangen haben. Beim Verpacken, beim Versand, bei der Lagerung - „wo auch immer“. Düplois spricht ausdrücklich von einem Fehler, nicht von einem Vergehen. Denn: „Es ist nicht davon auszugehen, dass da einer bewusst gehandelt hat.“

Polizei spricht mit allen

Bei dem ausgelaufenen Systemreiniger für Kraftstoffanlagen handle es sich definitiv nicht um Gefahrgut, „das darf per Paket verschickt werden“. Allerdings seien beim Verpacken natürlich gewisse Richtlinien zu beachten. Und dabei dürfte eben der erwähnte Fehler passiert sein, „aber das wissen wir noch nicht“. Die Polizei spreche jetzt mit dem Absender, mit dem Empfänger, mit allen, die mit dem Paket zu tun hatten.

Verletzt ist niocht gleich verletzt

Die Zahl der Verletzten korrigierte Düplois gestern von 21 auf 19 herunter: „Da haben mehrere gezählt, da kann man jemand schon mal doppelt erfassen“. Wobei der Begriff „verletzt“ nicht buchstäblich zu nehmen ist: „Wenn jemand sagt, ihm geht es nicht gut und er möchte sich untersuchen lassen, dann gilt er im Polizeijargon bereits als verletzt.“ Und in diesem Fall wurden alle Mitarbeiter der Verteilstation medizinisch unter die Lupe genommen. Vorsichtshalber. Denn immerhin klagten zwei Beschäftigte über massives Unwohlsein, einer musste sich übergeben. Auch wenn kein Gefahrgut im Spiel war: „Das ist vergleichbar mit dem Einatmen von Benzindämpfen an der Tankstelle. Das kommt immer wieder vor, ist aber auch nicht gesund und kann im Einzelfall auch Übelkeit auslösen.“