Die Ärzte korrigierten die Defizite mit Hilfe von Nahrungsergänzungsmitteln, zur Behandlung seiner Essstörung wurde er zudem an spezielle Therapeuten überwiesen. Das Sehvermögen wurde daraufhin nicht mehr schlechter, besserte sich aber auch nicht. Eine derartige Schädigung des Sehnervens allein aufgrund von schlechter Ernährung sei in Industrieländern selten, schreiben die Autoren.
Er denke nicht, dass die Seh- und Hörprobleme des Patienten allein mit seiner Ernährung zu tun haben, sagt hingegen Stefan Kabisch vom DIfE. Es sei keine Frage, dass sich der Junge nicht gesund ernährt habe. "Seine Vitamin-Werte sind dafür aber immer noch relativ gut, sie liegen im niedrigen Normalbereich und können meines Erachtens die Seh- und Hörstörungen nicht erklären."
Bei Menschen mit einem massiven Mangel an Vitamin B12 komme es etwa zu Kribbeln in den Füßen und später zu Gangstörungen. Im beschriebenen Fall seien solche Beschwerden nicht aufgetreten. Womöglich habe der Patient eine Stoffwechselstörung, die dazu führe, dass er das aufgenommene Vitamin B12 nicht ausreichend nutzen könne. Die Ernährung liefere also trotz der schlechten Nahrungsauswahl genügend Vitamin B12, der Körper verwerte es nur nicht korrekt. Die weiteren Mangelerscheinungen hätten ein eigenständiges Potenzial für Gesundheitsstörungen, könnten aber den Gehör- und Sehverlust auch nicht sinnvoll erklären.
Ernährungswissenschaftler Biesalski von der Universität Hohenheim weist darauf hin, dass Lebensmittel wie die beschriebenen bei hoher Energiedichte nur eine geringe Nährstoffdichte haben. Er vermutet, dass bei dem Patienten zu der schlechten Ernährung weitere Probleme hinzukommen, wie etwa eine ungünstige genetische Veranlagung. "Dass eine langfristige sehr schlechte Ernährung eine Schädigung des Sehnervs nach sich zieht, ist bekannt, wenn auch sehr selten. Meist tritt das im Zusammenhang mit exzessivem Alkoholkonsum auf." Dennoch sollten Augenärzte bei unklarem Sehverlust auch an die Ernährung denken, auch bei normalgewichtigen Patienten.
Den Autoren des Fallberichts zufolge leidet der Jugendliche vermutlich an einer sogenannten "vermeidend/restriktiven Essstörung". Die davon Betroffenen essen sehr wählerisch - aber nicht, um ihr Gewicht oder ihre Figur zu beeinflussen, sondern weil ihnen die Beschaffenheit bestimmter Nahrungsmittel zuwider ist. Zudem kann das Essen mit Ängsten verbunden sein, etwa zu ersticken oder sich erbrechen zu müssen.