Kimmich, der mit Abstand ehrgeizigste Nationalspieler, wird also mit Sicherheit am längsten zu knabbern haben an diesem neuerlichen WM-Aus. Wer seine Verhaltensmuster nach vergangenen Enttäuschungen kennt, der ahnt allerdings, dass er nach ein paar Wochen Verarbeiten eher mit noch größerem Willen aus seinem Loch – wenn er denn da wirklich reinfallen sollte – herauskommt. Denn Kimmich zieht in der Regel Kraft und Energie aus Niederlagen, weil er dann wieder ein Ziel vor Augen hat. Nur weiß er das in dieser bitteren nächtlichen Stunde von Al-Khor in diesem Falle wohl selbst noch nicht.
Irgendwann geht es dann doch weiter in der Runde. Weil Kimmich sich fängt – und so mancher Reporter auch. Es kommen wieder Fragen und Antworten, schnell auch zur allgemeinen Lage. „Es ist nicht nur Pech, dass wir hier ausscheiden, sondern auch Unvermögen“, sagt Kimmich dann – und benennt ein Hauptproblem der deutschen Elf bei der Wüsten-WM: „ Ein Gegner muss nicht viel investieren, um gegen uns Tore zu machen. Die Gegentore gegen Japan und Costa Rica, das ist für mich sinnbildlich.“
Auch Rüdiger findet klare Worte
Zum Ende der Runde macht Kimmich dann klar, dass er endgültig genug hat von dieser Weltmeisterschaft. Er will sich nun keine Partien mehr anschauen: „Es ist wie Aufkratzen von einer Wunde, wenn ich Spiele gucke. Ich tue mir damit keinen Gefallen.“ Sagt es und geht raus zum Bus. Seine Stimme immerhin ist da schon nicht mehr brüchig – sondern fest.
Kimmich war in dieser Nacht nicht der einzige Nationalspieler, der den berühmten Finger in die Wunde legte. Auch der Abwehrchef Antonio Rüdiger fand nach dem Aus klare Worte: „Die letzte Gier, dieses etwas Dreckige, das fehlt uns“, sagte der Profi von Real Madrid: „Viel Talent, alles schön und gut. Aber da gehört mehr dazu als einfach nur Talent.“ Es wird wohl keinen Experten geben, der Rüdiger da mit Vehemenz widerspricht.
Taktik statt Technik
Dass auch fußballspezifisch einiges im Argen liegt, war bei dieser WM wieder zu sehen und lässt mit Blick auf die Heim-Europameisterschaft in eineinhalb Jahren wenig Gutes erhoffen. Es sind die altbekannten Probleme, die den Deutschen Fußball-Bund (DFB) umtreiben und die er verändern will. So fehlt es an technisch und taktisch gut ausgebildeten Außenverteidigern, an klassischen Vollstreckern im Sturm – und bei den meisten jungen Kickern an der Straßenfußballermentalität. Denn die Taktik war im Training jahrelang wichtiger als die Technik – die Quittung dafür gibt es seit Jahren bei großen Turnieren.
Da trifft es sich gut, dass in Jamal Musiala und Florian Wirtz immerhin zwei junge Hochbegabte für die EM bereitstehen. Ob ihre Fähigkeiten ausreichen werden für ein starkes Heimturnier 2024 – das ist offener denn je.