Öko-Notstand in der Ostsee Extrem giftiges Schwermetall Thallium könnte Ostsee verseuchen

Markus Brauer
Badegäste nutzen das sonnige warme Wetter zu einem Strandbesuch an der Ostseeküste in Warnemünde (Aufnahme vom 12. Mai 2024).Doch im Wasser des Binnenmeeres lauert eine unsichtbare, tödliche Gefahr: Thallium. Foto: dpa/Jens Büttner

Die Ostsee ist schon seit langem nicht im besten Zustand. Trotz zahlreicher Maßnahmen ist die ökologische Situation weiterhin kritisch. US-Forscher haben jetzt auf eine weitere, bisher vernachlässigte Gefahr hingewiesen: das im Meeresboden schlummernde hochgiftige Schwermetall Thallium.

 
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Die Ostsee ist das Lieblingsmeer der Deutschen und eines der Hauptreiseziele von Urlaubern aus Deutschland und den Anrainerstaaten. Doch das Baltische Meer, wie es international nach seinem lateinischen Namen „Mare Balticum“ genannt wird, befindet sich in einem kritischen Zustand.

Ostsee droht Thallium-Intoxikation

Zu den bisher bekannten diversen ökologischen Belastungen kommt eine neue Bedrohung hinzu: Thallium. Forscher der Woods Hole Oceanographic Institution (WHOI) in den USA haben jetzt neue Risiken durch das hochgiftige Schwermetall im Meeresboden des Binnenmeeres entdeckt. Ausgerechnet Umweltmaßnahmen zur Wiederbelebung der Ostsee könnten demnach besonders schaden, wie die Zeitung „Welt“ als erste berichtet hat. Die Studie ist im Fachmagazin „Environmental Science & Technology“ veröffentlicht. An der Studie waren auch das Max-Planck-Institut für Marine Mikrobiologie in Bremen und das Leibniz-Institut für Ostseeforschung Warnemünde (IOW) beteiligt.

Die Forschungsergebnisse deuten demzufolge darauf hin, dass Maßnahmen zur Wiederbelebung der Ostsee genau den gegenteiligen Effekt haben und das gesamte Meer weiter vergiften könnten. Eine Erhöhung des Sauerstoffgehalts könnte nämlich dazu führen, dass Thallium aus den Sedimenten freigesetzt wird.

Was ist Thallium?

Thallium (Elementsymbol: Tl, Ordnungszahl: 81) ist ein Schwermetall, das zwar nicht selten ist, aber in nur in wenigen Mineralien und häufig als Begleitelement  vorkommt. Im Jahr 1861 wurde es in England von dem Chemiker William Crookes spektroskopisch im Bleikammerschlamm einer Schwefelsäurefabrik entdeckt.

Thallium wurde 1861 von dem Chemiker William Crookes in England entdeckt. Foto: Imago/Heritage Images

Verwendet wird das weiche, graue und hämmerbare Metall beispielsweise in der metallverarbeitenden Industrie, bei der Herstellung von Spezialglas und in der Messtechnik für verschiedene optische Gläser sowie in Thermometern und als Hochtemperatursupraleiter. Bei der Zementherstellung kann sich Thallium im Abgasreinigungssystem anreichern.

Das hochtoxische Thalliumsulfat wurde in den 1920er Jahren als Haarentfernungs- und Rattenmittel unter dem Handelsnamen „Zelio“ verwendet. In vielen Ländern (wie Deutschland, der Schweiz oder den USA) ist es inzwischen verboten.

Rattengift der Marke „Zellio“ mit Thallium in der Tube. Foto: Imago/biky

Zahlreiche Spurenelemente, vor allem Schwermetalle – darunter auch Thallium –, findet man seit einigen Jahrzehnten vermehrt in neuen technischen Geräten wie Computern, Smartphones oder Tablets – etwa in Akkus oder als Bestandteile von Schaltkreisen. Landen diese unrecycelt auf dem Müll, dringen die Stoffe früher oder später in den Boden.

Thallium (Elementsymbol: Tl, Ordnungszahl: 81) ist ein Schwermetall, das nur in wenigen Mineralien und häufig als Begleitelement vorkommt. Foto: Imago/Pond5 Images

Woher stammt das Thallium in der Ostsee?

In der Vergangenheit ist das Thallium vor allem über industrielle Abwässer in die Ostsee gelangt. Die Analyse von Sedimentkernen hat der Studie zufolge ergeben dass die Anreicherung  zwischen 1940 und 1947 begann. Auch wenn die Herkunft noch nicht exakt nachvollzogen werden kann, verweisen die Forscher als Eintragquelle auf die regionale Zement-Produktion und Schwerindustrie, die nach dem Zweiten Weltkrieg hochgefahren worden sei.

Dort wurde das Thallium in den Sedimenten eingeschlossen. Das Schwermetall kommt dort als Sulfid vor – also als unlösliche Salze der Schwefelwasserstoffsäure, die aus Verbindungen von Metallen mit Schwefel entstehen.

Der WHOI-Geologe Sune Nielsen warnt: „Große Teile der Ostsee – wenn nicht sogar der größte Teil – sind mit Thallium kontaminiert“. Es handle sich um das größte jemals dokumentierte Thallium-verseuchte Gebiet der Welt.

Sauerstoffanreicherung könnte Thallium freisetzen

Die Helsinki-Kommission (Helcom), die von den Ostsee-Anrainern gegründet wurde und für den Schutz der Meeresumwelt im Ostseeraum arbeitet, will den Sauerstoffgehalt der Ostsee durch Renaturierung und weniger Verschmutzung wieder auf ein natürliches Niveau zu bringen. Damit soll der Ausbreitung von sauerstoffarmen Zonen im Meer – sogenannten Todeszonen – entgegengewirkt werden.

WHOI-Meereschemikerin Colleen Hansel warnt vor der Umsetzung dieser Pläne. „Die Sauerstoffanreicherung der Ostsee wird wahrscheinlich dazu führen, dass Thallium und andere Metallsulfide ins Meerwasser gelangen.“ Gefahr drohe, weil sich die chemischen Elemente in der Nahrungskette wie etwa in Speisefischen anreichern – „in toxischen Konzentrationen“. Hansel: „Da die Zementproduktion weltweit weiter zunimmt, sollten die Hersteller unsere Studie lesen und die Auswirkungen auf die umliegenden Wasser- und Meeresökosysteme minimieren.“

Wie ist der ökologische Zustand der Ostsee?

Nach Angaben der schleswig-holsteinischen Landesregierung ist das Ökosystem Ostsee und seine biologische Vielfalt zu hohen Belastungen ausgesetzt. Gründe hierfür seien insbesondere die zu hohen Nährstoffeinträge, Einträge von Schadstoffen und Müll, Belastung durch Munitionsaltlasten, Unterwasserlärm sowie eine insgesamt zu hohe

Einer Studie des Stockholm Resilience Centre (SRC) der schwedischen Stockholm University zufolge schneidet das Binnenmeer recht gut beim küstennahen Fischbestand sowie bei den Lebensgrundlagen und wirtschaftlichen Bedingungen der Anrainer ab. Deutlich schlechter sieht es dagegen bei der Verunreinigung mit Schadstoffen, den Schutzgebieten, der Eutrophierung sowie Biodiversität und Kohlenstoffsenken aus.

Nachbesserungsbedarf sieht der Meeresbiologe Thorsten Blenckner vom SRC vor allem bei neuen Giftstoffen. Während die Situation bei alten Schadstoffen wie etwa Dioxin langsam besser werde, würden neuere teils noch gar nicht gemessen.

Wie hoch ist die Belastung durch Schadstoffe?

Laut Nitratbericht 2020 des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) ist die sogenannte Eutrophierung – also die menschengemachte Anreicherung von Nährstoffen im Meer – weiterhin eines „der größten ökologischen Probleme für die Meeresumwelt der deutschen Ostseegewässer“. In der Ostsee seien die Nitratkonzentrationen küstennah und insbesondere in der Nähe der Flussmündungen am höchsten.

Wie steht es um die Artenvielfalt in der Ostsee?

Helcom warnt, dass die Biodiversität der Ostsee besorgniserregend sei: kein guter Zustand für die Lebensräume des Freiwassers und des Meeresbodens, kein guter Zustand für die meisten kommerziellen Fischbestände und die Wasservögel, kein guter Zustand für Robben und Schweinswale. Von 173 untersuchten Arten sind der Kommission zufolge 100 in die höchsten Gefährdungsklassen eingeordnet.

Wie groß ist die Gefahr durch Weltkriegsmunition?

Die Gefahren für Meeresbewohner und Menschen durch die in Ostsee verklappte Munition wird durch den Alterungsprozess bei der Munition künftig steigen. Giftige Substanzen können ungehindert austreten. Dies führt laut Experten zu einer Gesundheitsgefährdung der Meerestiere – und über den Fischfang auch für den Menschen als Verbraucher.

„Das Problem wird größer, je mehr die Metallhüllen der Kampfmittel wegrosten“, erklärt der Toxikologe Edmund Maser, Leiter des Instituts für Toxikologie und Pharmakologie für Naturwissenschaftler an der Universität Kiel.

Wie viel Munition liegt in der Ostsee?

In der deutschen Nord- und Ostsee liegen rund 1,6 Millionen Tonnen konventionelle und chemische Waffen aus Weltkriegszeiten. Internationale Wissenschaftler hatten im Rahmen des Forschungsprojekts „Daimon“ mehrere Jahre zu den Risiken geforscht, die von versenkten Kampfstoffen in der Ostsee ausgehen.

Die Ostsee und die darin verklappte Munition haben Wissenschaftler bereits seit 2006 im Visier. Seit Ende 2018 widmen sich Forscher auch der Nordsee. Matthias Brenner vom Alfred-Wegener-Institut betont, beide marinen Systeme seien zwar sehr unterschiedlich. Dennoch könnten die Ostsee-Ergebnisse in vielen Bereichen für die Nordsee übernommen werden.

Info: Ostsee

Größe
Die Ostsee hat – inklusive Kattegat – eine Fläche von 412 500 Quadratkilometern (ohne Kattegat 390 000 Quadratkilometern). Die maximale Tiefe beträgt 459 Meter, die mittlere Tiefe 52 Meter.

Entstehung
Das Binnenmeer entstand am Ende der letzten Eiszeit – der sogenannten Weichsel-Kaltzeit – vor etwa 12000 Jahren nach dem Abschmelzen der riesigen Gletschermassen.

Salzgehalt
Der Salzgehalt der Ostsee nimmt von West nach Ost ab. Er schwankt im Westen zwischen 3 Prozent und 1,9 Prozent,. Im nordöstlichen Teil beträgt er nur noch zwischen 0,5 bis 0,3 Prozent. Der Salzgehalt an der Ostküste Schleswig-Holsteins beträgt 1,5 bis 1,9 Prozent. Zum Vergleich: Der Salzgehalt der Nordsee liegt bei 3,5 Prozent.

Ostsee-Länder
Zu den sieben Anrainer-Staaten der Ostsee zählen Deutschland, Estland, Finnland, Lettland, Litauen, Polen und Schweden.

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