Militärreformer und Meisterschüler: der ehemalige makgräfliche Offizier Gneisenau versetzte dem Kaiser der Franzosen in Waterloo den entscheidenden Schlag Ein Bayreuther gegen Napoleon

Von Michael Weiser

Vor 200 Jahren kämpfte Napoleon 
um seine letzte Chance – und verlor im Juni 1815 bei Waterloo Armee und Thron.
 Den entscheidenden Schlag versetzte ihm ein ehemaliger Bayreuther Offizier: August Wilhelm Neihardt von Gneisenau. 

 
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Dem gewonnenen Krieg von 1815 folgen die Ehrungen. Und als ihm die Ehrendoktorwürde der Universität Oxford verliehen werden soll, denkt Gebhard Leberecht von Blücher auch an einen Weggefährten. „Nu, wenn ich Doktor werden soll, dann müssen sie den Gneisenau wenigstens zum Apotheker machen“, sagt der legendäre Generalfeldmarschall über seinen Generalstabschef August Neidhardt von Gneisenau; „wir beide gehören nun einmal zusammen.“

Den Titel eines Staatsapothekers hätte sich August Wilhelm Neidhardt von Gneisenau, geboren 1760 in Sachsen, verdient gehabt. Wegen seiner Rolle bei der Rettung und dem erstaunlichen Wiederaufstieg Preußens.

Preußens Debakel...

Wir gehen zurück, ins Jahr 1806. Gegen das Genie Napoleons scheint kein Kraut gewachsen, zwanzig Jahre nach dem Tod Friedrichs des Großen marschiert das Heer Preußens in der Doppelschlacht von Jena und Auerstedt in ein Debakel, das fast die Existenz des Königreichs beendet hätte.

Gneisenau, der sich mit knapper Not aus der Katastrophe gerettet hat, macht sich an die Untersuchung des preußischen Patienten. Unfähigkeit des Oberbefehlshabers und vieler hoher Offiziere, schlechte Waffen, das mangelhafte Rekrutierungssystem, miese Behandlung der Soldaten durch ihre Vorgesetzten, daraus folgend eine schlechte Kampfmoral – das alles macht Gneisenau in seiner Denkschrift als Ursache für die Niederlage gegen die begeisterten Truppen Napoleons aus. Sein Rezept wird unter anderem sein: die allgemeine Wehrpflicht.

...und Preußens Aufstieg

Um die Bürger zu den Waffen rufen zu können, bedarf es jedoch weitgehender Reformen. Vor allem muss, das sieht Gneisenau klar ein, die Prügelstrafe abgeschafft, überhaupt die Behandlung der Soldaten verbessert werden. Der offensive und fintenreiche Militär wählt die Presse, um seine Ideen publik zu machen. In der Königsberger Zeitung „Der Volksfreund“ schreibt er anonym über die „Freiheit des Rückens“. Man müsse, so schreibt er, „wohlerzogene junge Männer vor der Möglichkeit schützen, von übelwollenden Vorgesetzten misshandelt zu werden“.

Gneisenau wächst, nach allem, was wir wissen, in Armut auf. Ein Großvater, Festungsbaumeister in Würzburg, holt ihn schließlich zu sich und lässt ihn die Jesuitenschule besuchen. 19 Jahre ist er alt, da nimmt er als Gemeiner auf Seiten der Österreicher am bayerischen Erbfolgekrieg teil. Dann wechselt er – kein Problem in Zeiten, die noch keine nationalen Streitkräfte kennen – in das Jägerbataillon des Markgrafen von Ansbach-Bayreuth.

Dienst in Bayreuth

Doch die Kassen von Markgraf Carl-Alexander von Ansbach-Bayreuth sind leer, und so vermietet er seine Soldaten an die Briten, die gerade Krieg gegen die rebellischen Nordamerikaner führen. Unter den ausgeliehenen Soldaten: der junge Leutnant von Gneisenau. Allerdings sind die Briten bei seiner Ankunft in Nordamerika bereits geschlagen. Nach seiner Rückkehr tut Gneisenau in der Mainkaserne in Bayreuth Dienst. Dort setzt Gneisenau ein Stellengesuch auf – an die Adresse Friedrichs des Großen. Und der „Alte Fritz“ bewilligt seine Aufnahme in die preußische Armee. Dort sollte Gneisenau Außergewöhnliches erreichen.

Seine Karriere nahm zunächst langsam Fahrt auf. Nach der Schlacht von Jena und Auerstedt wird Gneisenau zum Kommandanten der Festung Kolberg ernannt. Dort erwirbt er sich Ruhm. So fantasievoll setzt er die Belagerer unter Druck, so gut weiß er auch die Bürger der Stadt zum Kampf zu motivieren, dass die napoleonischen Truppen nicht einmal an die Wälle der Festung gelangen. Er vertraut seinen Truppen, lässt sie immer wieder Ausfälle starten, um den Belagerern Nadelstiche zu versetzen. In Kolberg schafft er eigenmächtig die Prügelstrafe ab. Er weiß, dass begeisterte Landeskinder besser kämpfen als gezwungene Soldaten.

Napoleons Schüler

Der Bayreuther Sachse Gneisenau wird zu einem Helden Preußens. Später wird er zugeben: „Bonaparte war mein Lehrer in Krieg und Politik.“ Ein großer Lehrer, ein großer Schüler. Am 18. Juni 1815 wird er in der Schlacht von Waterloo seinem Lehrmeister Napoleon den entscheidenden Schlag versetzten.

Davor aber hat er dicke Bretter zu bohren. Er wird in die Kommission berufen, die Preußens Armee sanieren soll. Zusammen mit Männern wie Scharnhorst und Hardenberg – auch der ein Mann, der sich in Bayreuth zuerst hervorgetan hatte – wird er Preußen Reformen verordnen. Er will den Volkskrieg, befeuert vom Beispiel der Spanier und der Tiroler, die den Franzosen und ihren Verbündeten Niederlage um Niederlage zufügen. Sein König Friedrich Wilhelm aber zaudert. Er fürchtet Napoleon, von dem er in einen Bündnisvertrag gezwungen worden ist. Und er fürchtet die allgemeine Wehrpflicht. Das riecht nach Revolution, wo käme man hin, wenn man dem Pöbel Waffen in die Hand gäbe? Und wo bleiben die Privilegien des Adels, wenn sich bald auch Bürgerliche Karrierechancen in der Armee ausrechnen dürften?

Doch der preußische König ist längst nicht mehr alleine Herr des Handelns. Im Winter 1812/1813 geht Napoleons Armee in Russland unter. Nun wechseln die preußischen Generäle ohne Zustimmung von Friedrich Wilhelm die Seiten. Von allen Seiten gedrängt, erklärt der König schließlich Frankreich den Krieg. Und Preußen wird zur deutschen Führungsmacht in den so genannten Befreiungskriegen, in denen man Napoleon den Garaus machen will. Und wird.

Die Entscheidung in Waterloo

Blücher und Gneisenau setzen dem Kaiser der Franzosen schwer zu, nach einer Serie von Niederlagen dankt Napoleon im März 1814 ab. Ein Jahr später ist er wieder da, entflohen von seinem Exil auf der Insel Elba. Die Herrschaft der hundert Tage hat begonnen, und die Mächtigen in Europa verfallen in Panik: Noch immer ist der Nimbus Napoleons stark. Der Kaiser der Franzosen sieht sich zahlenmäßig weit überlegenen Truppen der Briten und der Preußen gegenüber. Doch die Alliierten wissen, dass Überzahl allein keine Rettung gegen den größten Feldherrn seiner Zeit bringt. Der flinke Korse wiederum weiß, dass er seine Gegner nacheinander schlagen muss, dass er sie überfallartig überraschen muss, bevor sie sich vereinigt haben.

Die Briten haben Zeit verloren, stehen falsch, können ihren Verbündeten nicht zur Hilfe zu kommen. Somit stehen die Preußen am 16. Juni 1815 bei Ligny allein. Und verlieren die Schlacht, sind aber nicht so schwer geschlagen, wie von Napoleon erhofft. Sie ziehen sich zwar zurück. Allerdings nicht nach Lüttich, zu ihrer Versorgungsbasis. Die Preußen setzen alles auf eine Karte. Gneisenau, der mittlerweile anstelle des verwundeten Blücher das Kommando hat, führt sie in Richtung Waterloo, zu den Briten, die in schwerster Bedrängnis stehen. „Ich wollte, es wäre Nacht, oder die Preußen kämen“, sagt der britische Befehlshaber Wellington, als die Franzosen drohen, seine Stellungen zu überrennen. Am Nachmittag des 18. Juni 1815 treffen sie auf dem Schlachtfeld ein, die Preußen – und nun endlich weichen die Franzosen. „Ich habe einen Schlag erhalten, der tödlich ist“, sagt der Kaiser hinterher einem Vertrauten. Dann nimmt er ein heißes Bad. Sein Weg wird in die Verbannung führen, diesmal in die endgültige auf St. Helena, irgendwo mitten im Atlantik. 1821 stirbt er dort.

Beansprucht von vielen Seiten

Am Ende bleiben Missverständnisse. Die Schlacht, die Mutter aller Siege und Niederlagen, wird nicht als die Schlacht von Belle Alliance ins kollektive Gedächtnis eingehen. Im Gasthaus von Belle Alliance hatten Blücher und Wellington einander nach der Schlacht die Hände gereicht, und Blücher hätte die Stätte des „edlen Bündnisses“ als Namensgeberin bevorzugt. Doch Wellington will den Sieg als den seinen verkaufen und benennt die Schlacht nach dem Ort seines Hauptquartiers. Deswegen Waterloo.

Die Nazis heben Gneisenau aufs Podest. Taufen ein Schlachtschiff auf seinen Namen. Und lassen 1943/44 den Film „Kolberg“ drehen – Gneisenaus Meisterverteidigung als Beispiel für „fanatischen Durchhaltewillen“ und als Mutmacher für die triste Gegenwart. Die Bundeswehr sieht in ihm ein Vorbild für neue Menschenführung. Und ihr ostdeutsches Gegenstück, die Nationale Volksarmee, feiert Gneisenau, weil er die Volksbewaffnung vorantrieb und der preußisch-russischen Waffenbrüderschaft den Weg ebnete.

Preußen tut sich schwer mit seinem Helden. Weil er revolutionäre Ideen vertreten hat, fällt es Intriganten wenige Jahre nach Waterloo leicht, ihn aufs Abstellgleis zu stellen. Sein letztes Kommando hat er 1830 an der Grenze zu Russisch-Polen inne. Dort werden die Truppen von Krankheiten dezimiert. „Ich meinerseits halte die Cholera weder für so ansteckend noch für so gefährlich“, schreibt Gneisenau in einem Brief. Keine vier Monate später ist Blüchers „Apotheker“ tot – gestorben an der gar nicht mal so gefährlichen Cholera.

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