Medellin/Guatape - Mein Blick schweift unendlich weit über die Hügel rund um die pulsierende Stadt Medellin, und es scheint kein Ende in Sicht. Die zweitgrößte Stadt Kolumbiens erstreckt sich über das gesamte Aburra-Tal. Das ist ein Teil des mittleren Bergzugs der Anden im Nordwesten des Landes. Die einstige Drogen-Metropole liegt auf einer Höhe von 1538 Metern und wird daher auch Capital de la Montana, Hauptstadt der Berge, genannt. Wie fruchtbar diese Region ist, wird bei einem Ausflug ins Hinterland klar, wo nach nicht enden wollenden Serpetinen plötzlich Ruhe einkehrt nach dem Verkehrs-Chaos im Talkessel.

Für umgerechnet 30 Euro buche ich - natürlich ist Leo mit von der Partie - einen Ausflug nach Guatape und El Penol Rock. Vier Kanadier, zwei Engländer und eine Australierin sind mit an Bord des per Vierrad angetriebenen Kleinbusses. Während die Serpentinen immer weiter nach oben führen, lassen wir den Moloch unter einer Dunstglocke hinter uns. Es ist schier unglaublich, was der Radfahrer vor unserem Wagen da über Kilometer hinweg leistet. Quasi als blinder Passagier reist er am Heck eines kleinen Lkw bergaufwärts, ohne selbst strampeln zu müssen. Dafür muss er mit dem linkem Arm, mit dem er sich am Lkw festhält, Schwerstarbeit leisten. Und die Straße in die Berge ist alles andere als breit, geschweige denn eben gebaut. Zum ersten Mal macht das der Typ sicherlich nicht.


Live-Musik während der Fahrt

Als das Häuser-Meer, das die Hügel rund um das ausladende Medellin überzieht, immer winziger wird, stoppt unser Kleinbus. Ein junger Typ steigt mit Mundharmonika und Trommel ein, setzt sich kurzerhand auf die Ablage vorn im Wagen und singt und musiziert eine ganze Weile, während wir weiter bergaufwärts streben. Nach drei Songs und einem Trinkgeld von uns allen verlässt er das Gefährt, und wir genießen den Ausblick auf Medellin.

Je weiter wir nach oben fahren, umso harmonischer dehnt sich die Landschaft mit ihren sanften Hügeln aus. Es ist gerade so, als wähnte man sich plötzlich in Österreich oder in der Schweiz. Wären da nicht immer wieder Palmen, Bananen oder andere Exoten, die ihre grünen Blätter in den heute blauen Himmel recken. Die Luft riecht sogar im gasbetriebenen Kleinbus mit Vierradantrieb richtig würzig. Bob Marley trällert einstweilen "Kingston Town". Unser erster Stopp nach etwa eineinhalb Stunden geradewegs nach oben ist das Hostal Donde Rafa. Welch ein wunderbarer Flecken Erde, so abgeschieden von aller Welt. Raffi, unser Fahrer, muss den Allrad seines Vans einschalten, damit wir die schmale Löcherpiste dorthin gelangen. Hier gibt es seit Beginn meiner Reise - immerhin schon zwei Monate her - das genialste Frühstück, das ich je hatte: Abgesehen von heißer, natürlicher Schokolade gibt es Tortillas mit Spinat oder Tomaten, Mangos, Ananas, Guacemole (Avocado-Aufstrich), frisch gebackenes Brot mit Paranüssen (welch ein Gedicht!) und hausgemachten Schoko-Aufstrich. Absolut genial! Und das in dieser wundervollen Umgebung. Alles wäre vollkommen, wäre Chap noch an meiner Seite. Es vergeht keine Stunde, in der ich nicht an ihn denke und meine Tränen im Kreise Mitreisender zu unterdrücken versuche. Es gelingt nicht immer. Ich vermisse ihn unendlich.


Über Hängebrücke zum Schwimmen

Abseits normaler Straßen geht es nach dem wunderbaren Frühstück eine ganze Weile über huckelige Wege - in Deutschland wären dies bestenfalls Wanderwege -, ehe wir nach vielen grasenden Kühen auf den Weiden beiderseits des Pfades wieder auf eine Asphaltstraße gelangen. Hier oben ist die Luft wesentlich kühler als in Medellin. Mit meinen kurzen Hosen und dem T-Shirt kriege ich schnell Gänsehaut.

Der Tag ist herrlich klar. Nicht jeder Backpacker erlebt auf dieser Tour solch extrem gute Sicht wie wir. Wieder geht es eine Buckelpiste entlang, die abrupt an einer langen Hängebrücke endet. Meine Höhenangst wird in Lateinamerika extremst auf die Probe gestellt. Leo tut sich wie immer leicht, hockt er doch frohen Mutes hinten auf meinem Buckel. Die Leute, die mich begleiten, sind völlig aus dem Häuschen, denn jetzt ist Schwimmen angesagt. Nachdem ich in den letzten Wochen so viele herrliche Flecken zum Schwimmen und Schnorcheln hatte, brauche ich das heute nicht unbedingt. Einige meiner Begleiter, die fast alle so alt sind, dass ich glatt als deren Mama durchgehen könnte, springen von der wackeligen Hängebrücke aus schätzungsweise zehn Metern Höhe in den in der Sonne glitzernden See.

Zur Belohnung gibt es Bier. Ich probiere das Gaia Brown Ale, das ein Freund Raffis braut. Mir zu süß und zu stark.

Nach der Auszeit geht es weiter zum Penon de Guatape. Was für ein mächtiger Felsbrocken inmitten dieser spektakulären Seenlandschaft! El Penon ist ein 200 Meter hoher Granit-Monolith, der sich über dem El Embalse - einem künstlichen See - erhebt. 659 Stufen führen steil hinauf und bringen mich völlig aus der Puste. Wenn ich zurück an meine unglaubliche Tour in die "Lost City" denke, frage ich mich, wie ich das eigentlich geschafft habe.



Medellin - ein einziges Lichtermeer

Zurück zum El Penon: Von hier oben genießt man eine wirklich überwältigende Aussicht über die vielen Inseln und die ausladende Seenlandschaft. Ein absoluter Traum. Ein weiteres Highlight an diesem Tag nach dem Abstieg vom Monolith ist das Picknick, das Raffi zusammen mit seinem dunkel gelockten Freund für uns vorbeitet hat: Huhn oder Rind zu scharfen Bohnen, Sesam-Reis, leckere Salate aus Mangos, Tomaten, Radieschen und dergleichen mehr. Welch ein Genuss in dieser Schwindel erregend schönen Gegend. Während ich auf einer Decke sitze, haben es sich einige aus unserer Gruppe auf den beiden Sitzbänken des Vans bequem gemacht, die Raffi und sein Kumpel nach der Zubereitung des Essens mal eben ausgebaut und am Rande des Parkplatzes mit bestem Blick auf El Penon positioniert haben.

Nach dem Aufstieg auf den 200 Meter hohen Monolithen El Penon geht es nach dem beliebten Touristen-Magneten nach Guatape. Ob seiner wunderschön gepflegten und bunten Häuser gilt dieses kleine Fleck als ein Must see auf der Route durch die Region. Auf dem Rückweg nach Medellin - es sind rund 80 Kilometer - legen wir bei Dunkelheit einen Stopp ein, von wo aus wir einen traumhaften Blick auf das Lichtermeer der so schön gelegenen Metropole genießen können. Und mit uns ein paar hundert Leute mehr, die auf Mäuerchen sitzend kleine Snacks und Getränke verzehren, während die Augen auf die wundervolle Kulisse der Stadt gerichtet sind.


Raubüberfall zum Geburtstag

Zurück in meinem Hostel "Black Sheep", treffe ich Brigitte, die ausgerechnet heute Geburtstag feiert. Sie kümmert sich im "richtigen Leben" um Familien oder gestrandete Seelen in jedweder sozial schlimmen Situation und ist seit einigen Monaten ebenfalls allein unterwegs. Für mich nur allzu verständlich, dass man da einmal eine Auszeit nötig hat. Spontan buche ich mit ihr zusammen die Tage in der kommenden Woche. So viel im Voraus: Die Reise geht weiter ins Kaffee-Anbaugebiet. Aber bis dahin gilt es noch, Medellin näher zu erkunden.

Welch ein Zufall: Brigitte, die mit ihren langen, roten Rasterzöpfen stets aus der Masse sticht, ist genauso alt wie ich. Ein weiterer Zufall: Matt, der Engländer mit dem feinen Humor, gesellt sich zu uns. Und er zaubert aus seiner eisernen Reserve sogar ein Stückchen Kuchen für das Geburtstagskind in unserer Mitte. Während Matt weiterreisen wird, werden Brigitte und ich wohl noch eine Weile miteinander verbringen. Es gibt Menschen, mit denen man sich auf Anhieb versteht. Sie gehört eindeutig dazu. Während ich auf Reisen bin, um mein Leben neu zu sortieren, weil mein geliebter Chap von jetzt auf gleich nicht mehr da ist, lautet Brigittes Devise: "So lange mein Geld reicht!" Klingt auch nicht so schlecht. Just an ihrem Geburtstag hat sie aber alles andere als ein schönes Erlebnis zu verdauen. In der Metro-Station will sie aus ihrem Geldbeutel 2000 Pesos fischen - soviel kostet eine einfache Fahrt -, als sie plötzlich böse geschubst wird. Das Knie ist aufgeschlagen und blutet, ihr Bein schmerzt. Als sie ihre Konzentration wieder auf den Geldbeutel richtet, ist dieser spurlos verschwunden. Nebst Bargeld sind auch zwei Kreditkarten weg. Gerade im dichten Gewühl nutzen Hand in Hand arbeitende Diebe winzige Unachtsamkeiten von Passanten aus, um diese zu bestehlen. Brigitte verbringt den halben Tag auf der Polizeiwache und lässt als erstes die beiden Karten sperren. Dennoch ist sie abends bei unserem kleinen Kennenlern-Geburtstags-Umtrunk gut gelaunt.


Niemandem "eine Papaya geben"

Am nächsten Tag erfahre ich von unserer Touren-Begleiterin, dass das, was Brigitte widerfahren ist, in Medellin bedeutet, "jemandem eine Papaya zu geben". Klar übersetzt heißt das, hätte sie jemandem nicht diese Gelegenheit geboten, wäre sie nicht beraubt worden. Wir lernen daraus: Nur soviel Geld dabei zu haben, wie unbedingt nötig. Niemals Schmuck oder üppige Kamera-Ausrüstungen spazieren oder gar angeberisch zur Schau tragen und möglichst wenig auffallen. Kleingeld für Metro oder Drinks an der Straße sollte jeder separat mit sich führen und nicht alles in einem Geldbeutel. Wer mit dem teuren Handy herumspielt und plötzlich geschubst wird, muss auch damit rechnen, dass das Teil bald nicht mehr in seinem Besitz ist.