Bei den Parlamentswahlen im März hat sich zudem erneut ein Lager fundamentalistischer und konservativ-religiöser Politiker durchgesetzt, die auch Raisi nahestehen. Diese bisher eher unbekannten Abgeordneten könnten versuchen, mehr politischen Einfluss zu gewinnen. Moderate Politiker des Reformlagers wurden jüngst immer schwächer, auch weil der Wächterrat - ein mächtiges Kontrollgremium besetzt mit erzkonservativen Gelehrten - ihre Kandidaturen immer stärker einschränkte.
Der amtierende Parlamentspräsident Mohammed Bagher Ghalibaf, der bei der Parlamentswahl zwar schlecht abgeschnitten hat, hat bereits seit langem Ambitionen auf das Präsidentenamt. Viele Menschen sind nach gescheiterten Reformversuchen der vergangenen Jahrzehnte ohnehin desillusioniert und blieben bei der Abstimmung über das Parlament aus Protest fern.
Azizi zufolge haben viele Beobachter erst mit einem heftigen Machtkampf gerechnet, wenn das Staatsoberhaupt Chamenei stirbt. Der Religionsführer, der in allen strategischen Belangen das letzte Wort hat, war im April 85 Jahre alt geworden. Raisi galt als ein potenzieller Nachfolger. "Jetzt werden wir wahrscheinlich zumindest eine Generalprobe erleben, bei der die verschiedenen Fraktionen ihre Stärke demonstrieren werden", schrieb Azizi.
Hamidreza Azizi, Gastwissenschaftler an der Berliner Stiftung für Wissenschaft und Politik, sieht keine gravierenden Veränderungen im politischen System Irans, da die wichtigen Entscheidungen ohnehin von Chamenei und den mächtigen Revolutionsgarden getroffen werden. Insgesamt seien die Auswirkungen von Raisis Tod "weder grundlegend noch ein entscheidender Schlag für das System", schreibt Azizi auf X. "Er wird den Wettbewerb zwischen den Hardlinern beeinflussen, aber nicht die strategische Ausrichtung der Islamischen Republik in der Außen- oder Innenpolitik."
Wie reagiert die iranische Bevölkerung auf die Nachricht?
Tausende Regierungsanhänger strömten in der Nacht in die religiösen Zentren und Moscheen Irans, beteten für den Präsidenten und fürchteten das Schlimmste. Staatsmedien würdigten Raisis Amtszeit, die überschattet von Vorwürfen der Misswirtschaft und starker Repression war. In seiner früheren Funktion als Staatsanwalt soll er im Jahr 1988 für zahlreiche Verhaftungen und Hinrichtungen politischer Dissidenten verantwortlich gewesen sein, weshalb seine Gegner ihm den Beinamen "Schlächter von Teheran" verpassten.
Auch wenn sich die Kritik der jungen Generation inzwischen immer mehr gegen das gesamte System der Islamischen Republik richtet, stand Raisi innenpolitisch besonders unter Druck. Zuletzt trieb die Regierung ihren umstrittenen Kurs bei der Verfolgung des Kopftuchzwangs voran und brachte damit Teile der Bevölkerung noch mehr gegen sich auf. In den sozialen Medien reagierten zahlreiche Iranerinnen und Iraner mit Schadenfreude auf die Nachricht.