Geschichte der Ukraine Putin lag schon lange auf der Lauer

Historikerin Dr. Julia Eichenberg erzählt im Iwalewahaus die Geschichte der Ukraine im 20. Jahrhundert. Foto: Nicole Wrodarczyk

Historiker in Deutschland verkünden: Der Ukraine-Krieg hat sich angekündigt. Dafür spreche auch der Blick in die Geschichte des Landes.

 
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Putins Angriff auf die Ukraine kam gar nicht so überraschend. Findet zumindest Dr. Julia Eichenberg, die zu dem Thema forscht. Am Mittwochabend schilderte die Historikerin an der Uni Bayreuth ihre Erkenntnisse über den „Krieg in Ostmitteleuropa“ im Iwalewahaus. Im Rahmen der Bayreuther Stadtgespräche schickte sie die Zuhörer dabei zurück in die Vergangenheit.

Schon 2005 habe es einen „Gas-Krieg“ gegeben – damals als russische Reaktion auf die neue ukrainische Regierung. Voraus ging die umstrittene Präsidentschaftswahl zwischen Russlandfreund Wiktor Janukowytsch und dem europafreundlichen Wiktor Juschtschenko. Der Sieg Janukowytsch führte zu starken Protesten im Land. Bei der Stichwahl setzte sich dann Juschtschenko durch.

Daraufhin reduzierte Russland im Winter 2005 Gaslieferungen in die Ukraine, was die Bevölkerung stark belastete. Diese Geste wurde als klare politische Drohung verstanden. „Wahrscheinlich wollte Putin die Gesellschaft spalten und so die west-freundliche Regierung untergraben“, sagt Eichenberg.

Das genaue Gegenteil sei heute im Krieg der Fall: Der 2019 gewählte Präsident Wolodymyr Selenskyj zeige sich als charismatischer Anführer der Ukrainer. Auch im ersten Stadtgespräch, das nach langer Corona-Pause wieder in Präsenz stattfand, stand er im Mittelpunkt der Fragen. Die rund 50 Besucher diskutierten Selenskyjs Ansprache an den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen am Dienstag. In einer leidenschaftlichen Rede beschrieb der Präsident im Detail, welche Kriegsverbrechen an Zivilisten in Butscha durch russische Streitkräfte erfolgten. Selenskyj betonte, dass es Zeit für Reformen sei. Er forderte den Rat auf, Russland als Mitglied zu entfernen. Es blockiere Entscheidungen. Wenn er nicht agiere, sagte Selenskyj, könne sich der Rat „ganz aufzulösen“.

Auf Nachfrage ordnete Eichenberg die Rede auf zwei Ebenen ein: Selenskyj als Kommunikationsstratege und Selenskyj als Mensch. „Er muss sagen, was er sagt. Schließlich verhindert die Mitgliedschaft Russlands eine maßgebliche Verteidigungsmöglichkeit für sein Land.“ Eichenberg bewertet die Kriegskommunikation der Ukrainer positiv: Bisher verzichte die Regierung – bis auf einige Ausnahmen – auf Feindbilder und setze eher auf Gemeinsamkeiten. Zum Beispiel, indem Selenskyj regelmäßig Russisch rede.

Die Wissenschaftlicherin findet die Frage eher spannend: „Damals war der Sicherheitsrat für die Welt sinnvoll. Aber Institutionen sind immer menschengemacht. Man könnte ihn reformieren.“ Wie der Krieg weitergeht, hänge von vielen Faktoren ab. Als Historikerin könne sich Eichenberg nur die eskalierenden oder friedensstiftenden Faktoren ansehen. Dabei helfe es, die Geschichte der Region zu verstehen. „Vorher gab es eine erstaunlich lange Zeit des Friedens in Europa“, sagt Eichenberg. Und Frieden müsse eben aktiv gesichert werden, auch wenn es etwas kostet.

Sie sei verstört gewesen über die Besatzung der Krim und von Donezk 2014 und über den Angriffskrieg jetzt, „aber ich war nicht komplett erstaunt.“ Die Forschung habe sich oft mit diesen Szenarien auseinandergesetzt und vor militärischen Aktionen gewarnt. „Das Ausmaß der Gewalt in diesem Krieg ist entsetzlich.“

Es hätte aber auch anders laufen können, betont Eichenberg. Das beweise das Budapester Memorandum 1994: Nach dem Ende des Kalten Krieges waren auf dem Gebiet der Ukraine zahlreiche Atomwaffe der Sowjetunion verblieben. Der Staat besaß unverhofft das weltweit drittgrößte Atomarsenal, nach den USA und Russland. Die Ukraine erklärte sich im Memorandum aber dazu bereit, das Arsenal aufzugeben. Im Gegenzug bestätigten die Alliierten und Russland die Souveränität der Ukraine. Das internationale Abkommen ist bis heute gültig.

Putin jedoch sehe die Ukraine nicht mehr als eigenen Staat, sondern als Teil der russischen Kultur. In ihrer Geschichte war die Ukraine nicht immer unabhängig, aber „eine Diskussion über eine vermeintliche Einheit ist hinfällig“, sagt Eichenberg. Nicht nur wegen der Kriegsverbrechen in Butscha. „Wir stellen historische Zusammenhänge nicht da, um die Grenzen der Ukraine zu rechtfertigen, denn das müssen wir nicht. Das tut bereits das Völkerrecht.“

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