16 Stunden bis zum Integrationsgesetz

Archivfoto: Jens Kalaene/dpa Foto: red

Energy-Drinks auf der Regierungsbank, strickende Abgeordnete, Gulaschsuppe um Mitternacht: In der längsten Plenarsitzung in der Geschichte des Landtags setzt die CSU ihr Integrationsgesetz durch.

 
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Um 5.08 Uhr ist Schluss. «Ich bedanke mich bei allen und wünsche einen schönen Abend - beziehungsweise einen guten Morgen», sagt Landtagsvizepräsident Reinhold Bocklet. Endlich, nach gut 20 Stunden Plenarsitzung, nach 16-stündiger Marathon-Debatte über das Integrationsgesetz, gehen die bayerischen Landtagsabgeordneten am Freitagmorgen auseinander. Unten in der Gaststätte hat Landtagspräsidentin Barbara Stamm ein Frühstück herrichten lassen. Hier gibt es Kaffee, Semmeln, Rührei, Weißwürste - was man nach einer solch historischen Debatte eben braucht. Ja, historisch: Diese Nachtsitzung war die bislang längste durchgängige Plenarsitzung in der Geschichte des Landtags.

Am Ende hat die CSU natürlich ihr Ziel erreicht: Das umstrittene Integrationsgesetz, mit dem Rechte und Pflichten für Zuwanderer festgelegt werden, in dem der so umkämpfte «Leitkultur»-Begriff verankert wird, ist beschlossene Sache. Gegen die absolute Mehrheit der CSU können SPD und Grüne (und die Freien Wähler) am Ende nichts ausrichten - das war von Anfang an klar. Nur: SPD und Grüne wollten es der CSU so schwer wie möglich machen, den Beschluss so weit wie möglich hinauszögern. Es ist dies der maximal mögliche Protest, der der Opposition nach der Geschäftsordnung des Landtags möglich ist.

Und so ist auch die so übermächtige CSU gezwungen, die ganze Nacht im Plenarsaal zu verbringen, um die eigene Mehrheit zu sichern. Auch das Kabinett hat von Ministerpräsident Horst Seehofer und Fraktionschef Thomas Kreuzer die Order bekommen, so weit wie möglich da zu sein. Wobei Seehofer wegen wichtiger Termine in Berlin selbst nicht anwesend ist.

Donnerstag, kurz nach 13.00 Uhr: Die Generalaussprache beginnt - und zeigt sogleich, wie aufgeladen die Stimmung ist. Immer wieder kochen die Emotionen hoch. «Für ein solches Medienspektakel ist das Parlament eigentlich zu schade, Sie suchen doch nur nach Aufmerksamkeit», schimpft CSU-Fraktionschef Kreuzer. Sein SPD-Kollege Markus Rinderspacher weist dies lächelnd von sich: «Wir machen nur unsere Arbeit als Abgeordnete. Wir sind ein Arbeitsparlament.»

Kurz nach 16.00 Uhr muss die Landtagspräsidentin die Sitzung das erste Mal unterbrechen, so hoch geht es her. Der Ältestenrat tagt, erst eine Stunde später geht es weiter. Nach der Generalaussprache beginnt das langwierige Prozedere umfangreicher Einzelberatungen, quasi über jeden einzelnen Artikel des CSU-Gesetzentwurfs.

Kurz nach 21.00 Uhr die nächste Unterbrechung, wieder eine Stunde Pause, wieder Sitzung des Ältestenrats, und Sondersitzungen der Fraktionen. Um 22.00 Uhr schließlich geht es weiter - mit einer gleichlautenden Ansage von CSU und Freien Wählern: Beide wollen sich fortan nicht mehr an der Debatte beteiligen. Kreuzer klagt, SPD und Grüne wollten den Sitzungsverlauf mit ständigen Zwischenfragen und Zwischeninterventionen massiv verzögern. «Ich halte dies für einen Missbrauch der Geschäftsordnung», schimpft er und kündigt den Rückzug der CSU-Redner aus der Debatte an.

Oben auf der Tribüne gibt es in dem Moment - was verboten ist - Beifall eines Grüppchens um AfD-Landeschef Petr Bystron. Der Landtagsvizepräsident spricht eine Rüge aus - und dann ist die Gruppe genauso schnell wieder verschwunden wie sie zuvor auf der Tribüne erschienen war.

0.00 Uhr, Mitternacht: Die Debatte läuft nun seit elf Stunden - und ein Ende ist nicht in Sicht. In der Landtagsgaststätte herrscht plötzlich hektisches Treiben, weil hier bald geschlossen wird - und es damit offiziell kein Bier und sonstige Getränke mehr gibt. Die SPD gibt vor ihrem Fraktionssaal Gulaschsuppe und Würstchen aus. Mehrere Minister unterschreiben in einem fort Weihnachtskarten. Einige Abgeordnete stricken, andere lesen. Immer mehr unten im weiten Rund gähnen, die Augen werden müder, die Gesichter blasser.

Kurz nach Mitternacht gibt es aber schon den nächsten kleinen Eklat: Im Parlament hat inzwischen die Runde gemacht, dass Unbekannte das Gebäude der CSU-Landesleitung mit Schmierereien verunstaltet haben: «Nationalismus ist keine Alternative» haben sie dort gesprüht, und - wenn auch schlecht lesbar: «Integrationsgesetz verhindern». «Das ist also die Ernte der Saat, die #SPD und #Grüne mit ihren Pöbeleien gegen die #CSU ausgestreut haben», schimpft daraufhin der CSU-Fraktionspressesprecher auf Facebook - und löst damit Krach im Plenum aus: SPD und Grüne fordern Kreuzer auf, sich von dieser «absoluten Ungeheuerlichkeit» zu distanzieren - der aber lehnt ab.

3.20 Uhr: Das erste Etappenziel ist erreicht: Nach gut 14 Stunden Debatte stimmt das Parlament dem Gesetzentwurf der Staatsregierung in zweiter Lesung mit CSU-Mehrheit zu. Anschließend beginnt umgehend die abschließende dritte Lesung. Einen Vorschlag der SPD, die Schlussdebatte zu vertagen, hat die CSU zuvor erneut zurückgewiesen. Auf der Regierungsbank werden nun mehrere Red-Bull-Dosen gesichtet.

5.08 Uhr: Ende. Das Gesetz ist endgültig beschlossen. 95 Ja-Stimmen, 47 Nein-Stimmen, 12 Enthaltungen. Der Streit aber wird weitergehen: Die SPD hat bereits angekündigt, eine Verfassungsklage zu prüfen.

Für den Nachmittag war zunächst eine Generalaussprache über das Gesetz geplant. Dann sollte es folgendermaßen weitergehen: Zunächst insgesamt 29 Einzelberatungen von jeweils 15 bis 30 Minuten, quasi über jeden einzelnen Artikel des Gesetzentwurfs der Staatsregierung. Dann die Endabstimmungen über alle drei vorliegenden Gesetzentwürfe (auch die von Grünen und Freien Wählern) in zweiter Lesung. Dann eine Pause, dann die abschließende dritte Lesung, also der endgültige Beschluss.

Über eine Online-Petition hat ein breites Bündnis von Integrationsgesetz-Gegnern unter der Führung von Verdi und der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft mehr als 6.500 Unterschriften gesammelt und übergeben. CSU-Abgeordneter Josef Zellmeier, parlamentarischer Geschäftsführer der CSU-Fraktion im Bayerischen Landtag, sprach im Vorfeld der Debatte am Donnerstag im Landtag sogar von einer "deutschen Leitkultur" und äußerte mit Blick Richtung Opposition seine Ängste, dass die Debatte nicht zur "Show" ausgedehnt werde.

 "Alle Argumente sind ausgetauscht. Wir diskutieren seit über einem halben Jahr intensiv über dieses Gesetz, jetzt ist Zeit für die Verabschiedung und die praktische Umsetzung.  Eine Ausdehnung der Debatte bis in die frühen Morgenstunden "würde dem Ansehen des Bayerischen Landtags als Ort der Gesetzgebung und Entscheidungsfindung schaden".

In den zuständigen Fachausschüssen sei das Integrationsgesetz fast 40 Stunden lang beraten worden, in seinen Augen also ausreichend ausführlich.

dpa/kfe

 

Hintergrund Leitkultur:

(kfe). Der Begriff ist seit 2000 im Repertoire der politischen Diskussion, direkt im Zusammenhang mit Flüchtlingen und als Gegen-Wort zu Multikulturalismus, aber er ist eigentlich noch älter und meint etwas noch Umfassenderes.

Die CSU hat ein Bekenntnis zur "deutschen Leitkultur" bereits seit September 2007 in ihrem Grundsatzprogramm. Ebenfalls 2007 griff der damalige CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla den Begriff für das CDU-Parteiprogramm auf - im CDU-Grundsatzprogramm gibt es seit Anfang Dezember 2007 den Begriff „Leitkultur in Deutschland“. Laut CSU-Zeitung Bayernkurier definierte 2010 der damalige Generalsekretär der CSU, Alexander Dobrindt, die deutsche Leitkultur als "das Christentum mit seinen jüdischen Wurzeln, geprägt von Antike, Humanismus und Aufklärung."

Mitten in der Diskussion um den Begriff "Leitkultur" 2010 veröffentlichte der Journalist und Kulturwissenschaftler Mark Terkessidis sein Buch "Interkultur" bei Suhrkamp, in dem er nahelegt, warum es nicht gut ist, dass Menschen nur auf ihre Herkunft und damit ihre Kultur reduziert werden, eben weil sich Kulturen vermischen und damit auch die deutsche Kultur verändert wird, andererseits aber auch nicht mehr davon ausgegangen werden kann, dass Multikulturalität "als unverbindlich-tolerantes Nebeneinander" verstanden wird. Terkessidis sagte schon damals, Integration habe in Deutschland nicht wirklich stattgefunden, wenn es um tatsächliche Teilhabe von Menschen in allen Bereichen des Lebens ginge und plädierte für radikal neue Begriffe und Bewertungen. Und er machte darauf aufmerksam, dass sich Deutschland ja erst seit 1998 (auch) als Einwanderungsland definiere.

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