Wie Houston Stewart Chamberlain seine Liebe zu Kaiser und Reich entdeckte und vor dem Ersten Weltkrieg die Stadt seines Meisters prägte Der Überdeutsche aus Bayreuth

Von Michael Weiser

Krieger am Schreibtisch: Noch bevor Europa in den Krieg zieht, machen die 
Publizisten mobil. Einer der wichtigsten deutschen Autoren sitzt in Bayreuth – der fanatische 
Deutschland-Bewunderer und Judenhasser Houston Stewart Chamberlain (1855 - 1927).

 
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Es ist der 13. Juli 1870. Im Kurpark von Bad Ems begegnen einander zwei Männer. Sie reden ernste Worte miteinander, und dass der eine zum Abschied seinen Zylinder zieht und sich fast bis zum Boden verbeugt, kann nicht verbergen, dass die beiden im Unfrieden geschieden sind. König Wilhelm I. von Preußen und der französische Gesandte Graf Benedetti haben einander nichts mehr zu sagen, nun werden die Waffen sprechen. Was als Streit um den spanischen Thron begonnen hat, wird in den deutsch-französischen Krieg münden und zur Reichsgründung der Deutschen führen.

Ein junger Brite ist zufälliger Zeuge jener Unterredung im Kurpark. Die Begeisterung der Deutschen angesichts des bevorstehenden Krieges elektrisiert ihn. Viele Jahre später erinnert er sich überschwänglich an die Stimmung jener Tage, die in ihm die Liebe zum Deutschtum weckt. „Begeisterung, wilde Freude und Zorn wechselten in den Blicken und den Stimmen der dem Fürsten unaufhörlich zujubelnden Menge“, schreibt Houston Stewart Chamberlain. Und er zeichnet ein verklärtes Bild des umjubelten Monarchen: „Der in schlichter Soldatengestalt dastand, war mehr als ein einzelner Mann, er war die Verkörperung eines Geschlechtes. Ich erfuhr, was es bedeutet, König zu sein. Der Blick schien von weit her, über Jahrhunderte von Not, Kampf und Sorge zu kommen, und er schaute weit, weit hinaus, unbeirrt, doch nicht jubelnd.“

Ein berühmter Autor

Als Chamberlain diese Erinnerungen über 40 Jahre später niederschreibt, gehört er zu Bayreuths bekanntesten Bürgern. Mehr noch: Er ist eine europäische Berühmtheit, seit seinen „Grundlagen des 19. Jahrhunderts“. Schon hunderttausendmal hat sich dieses 1200 Seiten starke Werk verkauft, mit dem Chamberlain das Fundament für den Rassenantisemitismus legt. Noch Rosenberg und Hitler werden sich auf Chamberlain beziehen. Auch Kaiser Wilhelm II. hat die „Grundlagen“ verschlungen, seitdem pflegen Chamberlain und Hohenzollern-Monarch einen regen Briefverkehr. In seinen Biografien und Essays feiert Chamberlain das Wesen der Deutschen, die allein der Welt das Heil bringen. Chamberlain ist ein Meinungsführer im deutschen Kaiserreich vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs.

Wenn sich Chamberlain von seinem Schreibtisch in seiner Bibliothek erhebt, ein paar Treppenstufen nach unten nimmt und auf die Balkonterrasse im ersten Stock tritt, hat er freie Sicht hinüber zu Haus Wahnfried – das Haus seines Meisters und Propheten, seines Schwiegervaters Richard Wagner. Vor ein paar Jahren erst hat er Eva Wagner geheiratet, eine Tochter des Meisters. Er ist angekommen, hat seinen Lebenszweck gefunden. Und den Beginn seiner spirituellen Reise datiert er auf Bad Ems: „Für eines danke ich Gott: dass ich 1870, als ich noch kein Wort deutsch konnte, in Deutschland war und den bestimmenden Eindruck jener erhabenen Tage erlebte oder vielmehr gewann.“

Der fliegende Engländer

1855 als Sohn eines britischen Admirals in Portsmouth geboren, verbringt Chamberlain seine ersten zehn Lebensjahre in Frankreich. Sein Vater holt ihn bald nach England zurück, nachdem ihm schwant, dass der kleine Chamberlain bereits besser Französisch als Englisch spricht. In der neuen Schule hat es der Junge nicht leicht, seine Mitschüler hänseln ihn, Chamberlain fühlt sich fremd in seines Vaters Land. Seinen Platz im Leben findet er auch nach der Schule nicht, sein naturwissenschaftliches Studium schließt er wegen eines Nervenzusammenbruchs nicht ab. Häufige Wechsel des Wohnorts verraten die Ruhelosigkeitdes fliegenden Engländers.

Doch da ist Wagner, der Fixstern, der ihm noch Orientierung gibt. 1882 weilt Chamberlain zum ersten Mal in Bayreuth, der „Parsifal“ überwältigt ihn. Bald engagiert er sich in Wagner-Vereinigungen, schreibt erste Aufsätze über den Dichterkomponisten. Und macht so die Familie Wagner auf sich aufmerksam. Er gewinnt Zugang zur Witwe des Meisters, es ist der Beginn einer lebenslangen Freundschaft, die in zahlreichen Briefen dokumentiert ist. Cosima ist es auch, die ihm Arthur de Gobineaus Essay über die „Ungleichheit der Rassen“ empfiehlt.

Chamberlain lässt sich inspirieren, kommt im entscheidenden Punkt allerdings zu einem anderen Schluss als Gobineau. Der Franzose behauptet, dass es zu Beginn der Geschichte eine reine Rasse gegeben habe, die während des unaufhaltsamen Abstiegs der Menschheit infolge der Mischung der Rassen immer mehr heruntergekommen sei. Nun drohe das Ende. Chamberlain fasst für sich  Wagners Regenerationslehre neu und behauptet, die reine Rasse müsse erst noch gezüchtet werden. Spricht sich für ein Aussetzen schwächlicher Kinder nach dem Muster der Römer und Griechen aus. Und für den Kampf gegen die minderwertigen Juden. „Wie ein Feind stürzte der Jude in unsere Gesellschaft, stürmte alle Positionen und pflanzte auf den Breschen unserer echten Eigenart die Fahne seines uns ewig fremden Wesens auf“, schreibt Chamberlain.

Wenige Jahre nach dem Erscheinen seiner pseudowissenschaftlichen Schrift hat es Chamberlain weit gebracht. Nur noch ein Schritt bleibt ihm zu tun, dann hat er den innersten Zirkel der Familie Wagner erreicht – er muss eine Wagner-Tochter heiraten. Er himmelt Blandine an, holt sich anschließend von Isolde einen Korb, und kann zunächst auch bei Eva nicht landen. Sie könne Chamberlains Glotzaugen nicht mehr sehen, lästert sie. Sie gibt ihm 1908 aber doch das Ja-Wort. Schließlich ist sie schon 41 Jahre alt, und der vermögende Philosophen-Dilettant ist eine gute Partie. Vor allem aber ahnt sie in ihm den richtigen Verbündeten für ihr Lebenswerk, den Dienst an ihrer Mutter Cosima. Chamberlain erweist seinen speziellen Wert als skrupelloser Ränkeschmied 1914 im Kampf um den Grünen Hügel: Er ist es, der Isolde und ihren Mann Franz Beidler isoliert. Als der Familienzwist vor Gericht landet, zieht er die Strippen, dass der Prozess in die von Cosima gewünschte Richtung geht. So gelingt es Cosima, Isolde ins Abseits zu drängen.

Granaten aus Bayreuth

Von Chamberlains Ränkespiel erfährt die breite Öffentlichkeit nichts. Dort gilt er als deutscher Vorzeigeintellektueller. Der Kaiser hat ihn seines Wohlwollens versichert und wünscht in einer Neujahrszuschrift „meinem Streitkumpan und Bundesgenossen im Kampf für Germanen gegen Rom“ auch schon mal „Gottes Segen und unseres Heilands Stärkung“. Viele Zuschriften erreichen den Autor, die Menschen versichern Chamberlain ihres Respekts und sogar ihrer Liebe.

Dass „dieser zum Deutschen hinaufgearbeitete Engländer“ (Chamberlain über sich selbst) so einflussreich ist, hat seinen Grund weder in intellektueller Brillanz noch im glänzenden Stil (bei heutiger Lektüre stellt sich die Frage, wie Chamberlain überhaupt Leser finden konnte). Es ist vielmehr die Mischung aus Judenhass und Deutschenüberhöhung, die seine vielen, vielen Leser anspricht. Denn die Euphorie des Sieges gegen Frankreich ist längst Ernüchterung gewichen. Der Boom der Gründerzeit hat den Markt überhitzt, es folgt der Gründerkrach, der viele Existenzen ruiniert. Völkische Publizisten sehen die Schuld bei den Juden.

Auch die politische Großwetterlage hat sich zu Deutschlands Ungunsten entwickelt. Frankreich hat sich schnell erholt, Russland ist bedrohlich, Italien ist ein unzuverlässiger Verbündeter, auch von Österreich-Ungarns Verwicklungen am Balkan sind nur Probleme zu erwarten. Der Generalstab sieht den Krieg als unausweichlich an; je früher, desto besser, lautet die Devise. Um so besser, wenn man einen Anwalt wie Chamberlain hat. „Je mehr ich andere Nationen kennen lerne, desto mehr liebe ich Deutschland und die Deutschen. Mein Glaube, dass die ganze Zukunft Europas, d.h. der Zivilisation, der Welt, Deutschland in den Händen liegt, ist zur Gewissheit geworden“, hat schon der junge Chamberlain geschrieben. Das Wort des berühmten Schriftstellers hat natürlich noch mehr Gewicht.

Als der Krieg entfesselt wird, leidet Chamberlain geradezu körperliche Schmerzen. „Als am Morgen des 4. August mein Diener (der am Abend jenes Tages einrücken musste) in das Ankleidezimmer mit dem Rufe hereinstürzte: England hat den Krieg erklärt! —‚ da gab es für mich nur mehr einen Wunsch: mich wie ein krankes Tier in eine dunkle Ecke zu verkriechen“, schreibt er an General von Roon. Ein letztes Mal kommt ihn der Schmerz um seine alte Heimat an. Dann aber ergreift Chamberlain Partei, entschieden und unwiderruflich: Die Welt muss von den Segnungen deutscher Kultur und von der Friedensliebe des tückisch angegriffenen Kaiserreichs unterrichtet werden. Der Kaiser lobt ihn: „Ihre ,geistigen Granaten’, die im ganzen deutschen Volke und weit über dasselbe hinaus eine tiefgehende Wirkung erzielten, stellen ihren Verfasser in die Reihe der Kämpfer für deutsches Wesen, an dem einmal soll die Welt genesen.“ Und zeichnet ihn mit dem Eisernen Kreuz aus.

Als Hauptziel nimmt Chamberlain mehr und mehr Großbritannien ins Visier, die er kulturlose und geldgierige Nation von Händlern und Strippenziehern schildert. Eine „gewisse Anzahl weitverbreiteter und daher einflussreicher Zeitungen“ und skrupellose Politiker hätten sich verschworen, die Deutschen niederzuschlagen. „Von Anfang an ist England die treibende Macht gewesen; England hat den Krieg gewollt und herbeigeführt; England hat die Entfremdung Außlands (sic!) von Deutschland bewirkt, England hat Frankreich unablässig aufgehetzt. (...) Eine Handvoll Männer waren es, die, bei kaltem Blute, zur Förderung materieller Interessen, vor etlichen Jahren dies beschlossen.“

Idiotische Äußerungen

Für seine „Kriegsaufsätze“ erhält Chamberlain noch einmal internationales Publikum. Auch ins Englische werden die Texte übersetzt, unter dem Titel „Ausfälle eines Abtrünnigen“. Das Vorwort warnt vor den „idiotischen Äußerungen“ Chamberlains, die von allerdings auch von intellektuelleren Kreisen des Landes akzeptiert würden, welches Chamberlain zu seinem Unglück aufgenommen habe. Und eine Literaturzeitung höhnte, der ignoranteste Deutsche könne keinen solchen Unsinn wie Chamberlain schreiben.

Chamberlain wird nicht mehr nach England zurückkehren, nun ist er endgültig zu Hause. 1916 nimmt er die deutsche Staatsbürgerschaft an. Für die Völkisch-Nationalen wird er über den Krieg hinaus der Prophet von Bayreuth bleiben. Auch für den 34-jährigen Senkrechtstarter einer aggressiven rechtsextremen Partei: Adolf Hitler besucht 1923 den kranken Chamberlain. Und preist ihn: In Bayreuth sei das Schwert geschmiedet worden, „mit dem wir fechten“.

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