De facto tritt er auch im Wahlkampf jetzt schon gegen den Staatspräsidenten an, auch wenn der gar nicht kandidiert. Nach mehr als 21 Jahren, in denen das System auf Erdogan zugeschnitten und auch die Wählerschaft emotional auf ihn eingeschärft wurde, läuft in dem Land politisch nichts ohne den 70-Jährigen. Und so soll es wohl auch bleiben: Der AKP-Kandidat für Istanbul ist Murat Kurum, ein farbloser Technokrat, der aus Sicht vieler als Strohmann des Präsidenten fungiert und im Wahlkampf eher durch Versprecher und ungelenke Tanzeinlagen auffiel. Nach Meinung des politischen Analysten Berk Esen steckt hinter der Nominierung des 47-jährigen ehemaligen Städtebauministers die Absicht Erdogans, innerparteilich keinen ernst zu nehmenden Konkurrenten aufzubauen.
Aber auch für die Opposition steht einiges auf dem Spiel. "In einer immer autoritärer werdenden Türkei, die Ressourcen bei der Regierung konzentriert, brauchen Oppositionsparteien Zugang zu kommunalen Ressourcen, um zu überleben", sagt Esen.
Innerparteilicher Widerstand und fehlende Unterstützung der Kurden
Den Sieg Imamoglus wollen aber nicht nur Erdogan und Kurum verhindern. Imamoglus Partei, die sozialdemokratische CHP steckt in scharfen Flügelkämpfen, auch innerparteilich gibt es Widerstand von alten säkularen Eliten gegen den gläubigen Muslim Imamoglu, heißt es. Auch auf die Unterstützung der kurdischen Wähler kann Imamoglu sich nicht verlassen. 2019 hatte die prokurdische Partei HDP ihm die Unterstützung ausgesprochen, nun schickt ihre Nachfolgepartei, die DEM, eine eigene Kandidatin ins Rennen.
Zum Nachteil der Opposition wirkt sich auch aus, dass der Wahlkampf unter stark ungleichen Voraussetzungen geführt wird: Die AKP hat weitaus mehr Zugriff auf finanzielle Mittel. 90 Prozent der Medien sind in Regierungshand, wo deren Sicht auf die Welt unhinterfragt verbreitet wird. Imamoglu droht zudem weiterhin ein Politikverbot. Der 53-Jährige war 2022 wegen Beleidigung verurteilt worden - sollte das Urteil rechtskräftig werden, darf er kein politisches Amt mehr ausüben. Kritiker sahen in dem Urteil den Versuch, den beliebten Politiker politisch kaltzustellen. "Imamoglu ist der beste Kandidat der Opposition", sagt Esen. Nach einem erneuten Sieg würde es sehr schwierig, Imamoglu abzuschreiben. "Das weiß auch Erdogan."
Wohl auch darum kündigte Erdogan vor einigen Wochen an, die Wahlen nun seien seine letzten - laut Beobachtern der Versuch, AKP-Wähler emotional zu gewinnen. Der Politikanalyst Murat Yetkin erwartet das Gegenteil: Auf einen Sieg Kurums würde unweigerlich die Schwächung der Kontrollmechanismen in der Exekutive folgen, "und eine weitere Kandidatur Erdogans".