Vor 70 Jahren erreichten die US-Truppen das Konzentrationslager – Dokumentarfilm zeigt, wie das Terrorlager auch die Befreier traumatisierte KZ Dachau: Blick ins Grauen

Von Michael Weiser

Heute vor 70 Jahren erreichten US-Truppen das Konzentrationslager Dachau. Der 29. April 1945 war der Tag, der 30000 Häftlingen die Freiheit brachte. Und viele Soldaten der US-Armee bis zum heutigen Tag zeichnete.

 
Schließen

Diesen Artikel teilen

Die US-Soldaten, die am 29. April 1945 in das 17 Kilometer nordwestlich von München liegende Städtchen Dachau vorrückten, konnten so etwas wie eine oberbayerische Idylle sehen. Beete mit Frühlingsblumen, hübsche Häuschen, die saubere Straßen mit Kopfsteinpflaster säumen, ein Schloss, das hoch über den Giebeln auf einem Höhenzug thront. Der Himmel allerdings war grau an jenem Tag, und es war so kühl, dass niemand sich ernsthaft über Schneeflocken gewundert hätte.

Und dann war da noch was.

„Was für ein fürchterlicher Gestank!“ Donald Greenbaum von der 3. US-Armee erinnert sich, wie er das vor 70 Jahren zu einem Kameraden sagte. Und wie sich der Gestank verstärkte, je näher er und die anderen US-Soldaten einem riesigen Komplex kamen. Von einer drei Meter hohen Backsteinmauer umgeben, wirkte er wie eine Garnison. Doch da stand dieser Zug mit 30, 40 Güterwaggons. Ein US-Soldat öffnete die Tür eines Waggons – und sah das Grauen. In Dreck und Blut lagen da Körper, grotesk verrenkt, massenweise Leichen, aufeinandergestapelt wie Brennholz. Es war der „Todeszug“ aus Buchenwald, der in Dachau seine Endstation erreicht hatte. Mit über 2000 Leichen an Bord stand er seit Tagen auf den Gleisen, die in das Konzentrationslager Dachau führten.

Bis dahin hatte vermutlich keiner der GIs eine Ahnung gehabt, was ein Konzentrationslager ist. Hier, in dem kleinen Städtchen wenige Kilometer vor München, erfuhren sie es: die Hölle auf Erden. Nicht wenige der kampferprobten Soldaten übergaben sich in all dem Gestank, dem Schmutz, dem Blut und den Exkrementen. Dachau, das erste der Konzentrationslager, 1933 als Blaupause für den Terror der nächsten zwölf Jahre errichtet; Dachau, Schule der Gewalt für die SS; Dachau, Ort der Qual für eine Viertelmillion Menschen.

"In zehn Jahren werden wir nicht mehr sein"

München, Ende April 2015, warm ist es, über der Stadt wölbt sich ein blauer Himmel. Im Amerika-Haus, nur einen Steinwurf von der Stelle entfernt, wo einst die NSDAP-Parteizentrale stand und heute der weiße Kubus des Dokumentationszentrums aufragt, sind Befreier und Befreite zusammengekommen, ehemalige US-Soldaten und Häftlinge. Anlass ist die Vorpremiere eines Filmes, der über die amerikanischen Soldaten und die Befreiung des Konzentrationslagers berichtet. Und sie gehören zu den letzten Männern, die von jenem 29. April 1945 berichten können, fünf Männer, der jüngste 85 Jahre alt, der älteste 93.

Unter ihnen Ex-Soldat Donald Greenbaum, 90 Jahre alt. Er habe eigentlich nicht mehr zurückkehren wollen nach Deutschland, den Gestank des fernen Tages werde er nicht los, sagt er. Aber nein, er hasse die Deutschen nicht, nicht die von heute, es sei schön hier, er genieße es, Deutschland von einer anderen Seite zu sehen. Und er weiß, wie wichtig sein Zeugnis ist: „In zehn Jahren werden wir nicht mehr sein.“

Greenbaum spricht vom Gestank, von abgemagerten Häftlingen, von der Freude derer, die sich noch freuen konnten. Er spricht auch von Zorn, von besinnungsloser Wut. Als die Amerikaner in Dachau vorgerückt waren, geduckt, des Feuers von Scharfschützen gewahr, fielen nur einige wenige Schüsse. In den meisten Fällen ergaben sich auch die SS-Leute im Lager ohne größeren Widerstand. Greenbaum erzählt, dass er sich freiwillig zur Bewachung der Deutschen gemeldet habe. „Ich wolle sie laufen lassen und dann erschießen.“ Doch die Vorgesetzten wollten keine jüdischen Bewacher von SS-Leuten – um Racheakte zu verhindern. Dafür schossen andere GIs: Rund 50 SS-Leute wurden von den erbosten Amerikanern niedergemacht. Bis dahin hatten die US-Soldaten die Deutschen als Gegner respektiert. Seit Dachau und seit der Befreiung der Außenlager, wo die SS noch kurz vor der Ankunft der Befreier die Häftlingsbaracken in Brand gesteckt hatten, wussten sie, gegen wen sie wirklich kämpften. Die jähe Erkenntnis raubte manchen fast den Verstand.

Auch Ben Lesser (86) kommt in dem Film zu Wort. Und äußert sich im Amerika-Haus zu den Lehren jenes Tages. „Wir sind alle Menschen, und in uns allen lauert etwas, was man besser nicht an die Oberfläche kommen lässt.“ Vor Schulklassen spricht er regelmäßig über seine Erlebnisse. Er hat das Lager Dachau vor siebzig Jahren verlassen, das Lager jedoch niemals ihn. Albträume plagen ihn, vor seinen Auftritten und danach könne er überhaupt nicht schlafen, sagt er. „Ich fühlte, dass es so viele Leute mehr verdient hätten zu überleben, als ich. Warum ich? Ich habe mir die Frage oft gestellt. Ich glaube, Gott brauchte einen Zeugen. Wenige haben überlebt, noch weniger können darüber sprechen, weil es so weh tut. Aber einer muss es tun.“ So wie Greenbaum. Jahrzehntelang hatte er sich verschlossen. Bis er im Fernsehen einen Mann sah, der den Holocaust leugnete. „Ich war da gewesen“, sagt Greenbaum.

Etwa 30 000 Häftlinge waren beim Eintreffen der Amerikaner in Dachau am Leben. Tausende jubelten ihren Befreiern zu, andere waren zu schwach selbst dazu. „The walking dead“, die „lebenden Leichen“, nannten die Amerikaner diese bis aufs Skelett abgemagerten Menschen. Zu ihnen gehört Joshua Kaufman (87). Er stamme aus einer fanatisch religiösen Familie, sagt er. Die meisten seiner Angehörigen wurden von den Nazis getötet. Er selber habe überlebt, weil ihn das Leiden stärker und stärker gemacht habe. Weil er den Tag der Befreiung, den Tag der Feier habe erleben wollen. Er glaubt nicht mehr an Gott. Er weiß für seinen Teil, dass es ihn gibt. „Mein Gott sind die amerikanischen Soldaten, die uns befreit haben.“

Der Film, in dem die Veteranen und Überlebenden zu Wort kommen, ist manchmal schwer zu ertragen, vor allem wegen der historischen Farbaufnahmen vom Todeszug. Berührend ist eine Szene aus Florida. Joshua Kaufman ist zu sehen, ein hochgewachsener Schlaks mit Schirmmütze, der den Strand mit nervösen Blicken nach einem Mann absucht, der ihn siebzig Jahre zuvor befreit hat. Er ist verabredet, für einen Dank, den er siebzig Jahre lang nicht losgeworden ist.

Die Kamera fängt einen alten Mann ein, der sich mit einem Gehgestell über die Promenade nähert. Daniel Gillespie, vor siebzig Jahren Soldat der 42. Infanterie-Division „Rainbow“. Die Haut seiner Hände, die vor 70 Jahren in Dachau vielleicht ein Sturmgewehr umklammerten, ist fast durchsichtig und von Altersflecken übersät. Kaufman eilt ihm entgegen, salutiert. Auch der Veteran hebt die Hand grüßend an die Schläfe.

„Ich war damals zu schwach, ihnen die Füße zu küssen“, sagt Kaufman fast schluchzend. Dann kniet er nieder und drückt seine Lippen auf die Schuhe des anderen alten Mannes.

INFO: Anlass für die Zusammenkunft war die Vorpremiere des Dokumentarfilms „Die Befreier“. Der Film ist eine Produktion von Emanuel Rotstein für den Bezahlsender History. Rotstein zeichnete bereits für die Dokumentation „Der elfte Tag – Die Überlebenden von München 1972“ über das Olympia-Attentat von München verantwortlich. „Die Befreier“ wird am 31. Mai auf History ausgestrahlt.