Politische Beobachter wie der Analyst Berk Esen gehen davon aus, dass viele AKP-Anhänger angesichts der schlechten Wirtschaftslage nicht zur Wahl gingen oder für kleinere konservative Parteien wie die islamistische Yeni Refah stimmten. Diese machte der AKP Konkurrenz und konnte zwei Provinzen von ihr erobern.
Die Inflation von rund 67 Prozent macht vor allem Geringverdienern und Rentnern zu schaffen. Vor allem Lebensmittel und Mietpreise werden stetig teurer. Die ideologische Bindung ist bei Kommunalwahlen traditionell nicht so stark, was es konservativen Wählern leichter gemacht haben könnte, Erdogan einen Denkzettel zu verpassen. Darauf deutet auch die geringere Wahlbeteiligung hin. Die lag nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur mit gut 78 Prozent etwa sechs Prozentpunkte unter der bei vergangenen Kommunalwahlen.
Türkei vor großem politischem Umbruch?
Ob Erdogan dauerhaft geschwächt ist, wird sich zeigen. Große Städte zu regieren kann eine Chance für die Opposition sein, das eigene Profil zu schärfen - noch dazu in einem Land, wo die Medien zum Großteil staatlich kontrolliert sind. Erfahrungsgemäß macht es die Regierung in Ankara oppositionell regierten Städten aber oft schwer, bedeutende Veränderungen anzustoßen oder große Projekte umzusetzen.
Erdogan selbst hat sich zudem in der Vergangenheit immer wieder als anpassungsfähig erwiesen. Der Plan einer Verfassungsänderung scheint aber erst mal vom Tisch. Analysten waren davon ausgegangen, dass ein starkes Abschneiden der AKP den Präsidenten darin bestärken könnte, eine Verfassungsänderung anzustreben, um sich eine weitere Amtszeit zu sichern.
Analyst Esen weist zudem darauf hin, dass der Erfolg der Opposition nicht bedeute, dass die Türkei nun demokratischer sei. Aus seiner Sicht ist die Türkei unter Erdogan vielmehr ein wettbewerbsorientiertes autoritäres Regime, in dem die Wahlen weder frei noch fair sind. Zugleich schrieb er auf der Plattform X (vormals Twitter): "Wenn die CHP die Chance nutzt, wird es einen großen politischen Bruch geben."
Istanbuler Bürgermeister gewinnt an Profil
Ob die CHP das Momentum auch für Erfolge auf nationaler Ebene nutzen kann, hängt teilweise auch von ihrem Hoffnungsträger ab – dem Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu. Er wurde in der 16-Millionen-Metropole wiedergewählt und stärkte damit seine Position als möglicher künftiger Präsidentschaftsanwärter. Istanbul, das wirtschaftliche und kulturelle Herz des Landes, gilt als Sprungbrett für höhere Ambitionen. Auch Erdogans politischer Aufstieg begann in Istanbul.
Imamoglu droht aber auch immer noch ein Politikverbot als Resultat eines Verfahrens gegen ihn, das viele Beobachter als politisch motiviert kritisieren. Eine Entscheidung wird in den kommenden Wochen erwartet.
Imamoglu gewann laut vorläufigen Ergebnissen mit rund elf Prozent Vorsprung und ließ sich noch in der Nacht zu Montag vor jubelnden Anhängern feiern. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass der 53-Jährige erneut Unterstützung von kurdischen Wählern erhielt, obwohl die prokurdische DEM eine eigene Kandidatin aufstellte. Der Bürgermeister hat zudem bewiesen, dass er die Sechser-Allianz, mit der die Opposition bei den Präsidentenwahlen angetreten war, nicht braucht. Die nationalkonservative Iyi-Partei, die als Konkurrentin von Imamoglus CHP galt, versank in der Bedeutungslosigkeit.