Aufruf zur Zusammenarbeit und privatem Engagement
Steinmeier rief die demokratischen Parteien zur Zusammenarbeit auf, wo das gemeinsame Ganze berührt oder bedroht sei. "Die Gemeinsamkeit der Demokraten - sie ist gefragt, wenn die Demokratie angefochten ist." Zugleich verbreitete Steinmeier Zuversicht: "Ich bin fest überzeugt: Wir werden diese Zeit der Bewährung bestehen."
Der Bundespräsident machte deutlich, dass er jetzt nicht nur die politisch Verantwortlichen in der Pflicht sieht. "Was wir jetzt brauchen, sind Bürgerinnen und Bürger, die nicht sagen "Was kümmert mich das?", sondern die sagen "Ich kümmere mich."" Davon gebe es viele Millionen in unserem Land.
Gesamte Staatsspitze beim Staatsakt
An dem Staatsakt im Freien zwischen Reichstag und Kanzleramt nahmen die Spitzen der fünf Verfassungsorgane teil. Neben dem Bundespräsidenten sind dies die Präsidentinnen und Präsidenten von Bundestag, Bundesrat und Bundesverfassungsgericht - Bärbel Bas (SPD), Manuela Schwesig (SPD) und Stephan Harbarth - sowie Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD). Unter den rund 1100 Gästen waren auch die früheren Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) und Angela Merkel (CDU) sowie Altbundespräsident Joachim Gauck. Für die Sicherheit und Verkehrsführung sorgten rund 1000 Polizistinnen und Polizisten.
Steinmeier wurde während seiner Rede immer wieder von Beifall unterbrochen. Im Anschluss applaudierten ihm die Gäste des Staatsaktes stehend.
Gänsehautmoment mit Margot Friedländer
Steinmeier würdigte das Grundgesetz als ein "großartiges Geschenk" für Deutschland nach der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. "Ich bin überzeugt: Diese Verfassung gehört zu dem Besten, was Deutschland hervorgebracht hat." Den zentralen Satz in Artikel 1 - "Die Würde des Menschen ist unantastbar." - nannte der Bundespräsident einen "Fixstern". Einen Gänsehautmoment erlebten die Gäste, als die 102 Jahre alte Holocaust-Überlebende Margot Friedländer, die dem Tod im Konzentrationslager nur knapp entronnen war, eben diesen Satz in einer eingespielten kurzen Sequenz zitierte.
Andere Prominente zitierten weitere Grundrechte, die Journalistin Jessy Wellmer zum Beispiel Artikel 5 ("Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet."), der in Ghana geborene Koch Nelson Müller Artikel 3 ("Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.") und der Unternehmer Michael Otto Artikel 14 ("Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.")
Erinnerung auch an 35 Jahre Friedliche Revolution
Steinmeier erinnerte in seiner Rede auch an die Friedliche Revolution in der DDR vor 35 Jahren, die letztlich dazu führte, dass das bis dahin nur in Westdeutschland geltende Grundgesetz zur Verfassung für ganz Deutschland wurde. "Das Grundgesetz und die Friedliche Revolution, sie haben die zweite deutsche Demokratie, oder ich sollte besser sagen, sie haben uns zu dem gemacht, was wir heute sind. Wir feiern zusammen, weil wir zusammengehören."
Einen dezenten Hinweis darauf, dass 1989/90 vieles nicht so gelaufen ist, wie sich das die Menschen in Ostdeutschland vorgestellt hatten, gaben Katharina Thalbach und Andreja Schneider. Sie ließen eine musikalische Zeitreise von 1949 bis 1989 mit der Kinderhymne von Bertolt Brecht ausklingen - die sich manche Ostdeutsche als neue gesamtdeutsche Nationalhymne gewünscht hätten. Vergeblich. Und so endete der Staatsakt mit "Einigkeit und Recht und Freiheit".