Außerdem kritisieren sie, dass innerhalb der SPD eine "ehrliche Aufarbeitung der Fehler in der Russlandpolitik der letzten Jahrzehnte" fehle. Weder die Verstrickungen eigener Mitglieder mit Interessenvertretern Russlands noch "die fehlgeleitete Energiepolitik, die Deutschland in eine fatale Abhängigkeit von Moskau geführt" habe, seien bisher ernsthaft problematisiert worden.
Noch keine Reaktion von Kanzler oder Parteiführung
Eine Reaktion von Kanzler, Partei- oder Fraktionsspitze gibt es bisher nicht. SPD-Chef Lars Klingbeil veröffentlichte vor einigen Tagen auf Instagram ein Video, in dem er aber lediglich die Linie der politischen, finanziellen und militärischen Unterstützung der Ukraine bekräftigte. "Die wird so lange weitergehen, wie die Ukraine unsere Unterstützung braucht." Die Debatte über rote Linien in der Ukraine-Politik sprach er darin nicht direkt an.
Der Kanzler würde die Taurus-Debatte am liebsten ganz abbinden. Sie sei "an Lächerlichkeit nicht zu überbieten", hatte er zuletzt kritisiert. Scholz fühlt sich in seinem Kurs bestärkt, weil seit seinem Nein zu Taurus die Umfragewerte für ihn und seine SPD steigen - rechtzeitig zum bevorstehenden Beginn des Europawahlkampfs. Auf die Frage, ob er die Ukraine-Politik aktiv zum Wahlkampfthema machen werde, antwortete er am Mittwoch: "Ich bin davon überzeugt, dass viele Bürgerinnen und Bürger es so sehen, dass genau diese Frage der Sicherheit in Europa bei der von mir geführten Regierung und bei mir gut aufgehoben ist."
Zweites Warnsignal an Kanzler und Parteiführung innerhalb kurzer Zeit
In der SPD weiß man aus schmerzlichen Erfahrungen, dass ihr innerparteilicher Streit eher schadet. Deswegen sind die wenigen Reaktionen auf den Brief, die es bisher gibt, auch eher beschwichtigend. Die Aufregung in der SPD über den Brief halte sich "in Grenzen", sagte der Außenpolitiker Nils Schmid dem "Spiegel". "Bei Taurus aber respektiert die SPD die Abwägung des Kanzlers."
Der Brief ist nun aber schon das zweite Warnsignal an Kanzler und Parteiführung, dass es Unmut in den eigenen Reihen gibt. Das erste Zeichen war Anfang der Woche die Ankündigung des Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses, Michael Roth, sich aus dem politischen Betrieb zurückzuziehen. Roth war einer der ganz wenigen aus der SPD, die sich überhaupt mal gegen den Kurs des Kanzlers in der Ukraine-Politik gestellt haben. In einem "Stern"-Interview begründete er seinen Rückzug mit einer Entfremdung vom Politikbetrieb insgesamt, aber auch von seiner eignen Fraktion: "Wenn die Tür zum Fraktionssaal aufging, hatte ich zuletzt den Eindruck, ich steige in einen Kühlschrank."