Shakespeare soll ja angeblich seinen 400. Todestag haben. Aber mal ehrlich – wie geht es ihm denn?

Frank Günther: Er ist sehr lebendig, weil ihn gerade die Engländer in unglaublichem Ausmaß feiern. Auch bei uns hat er immer noch die Pole Position bei den Theatern inne, er ist der der meistgespielte Autor, und er ist immer noch der Autor, an dem man sich wendet, wenn Extremes passiert und man die Welt befragen möchte. Als gegen Nixon ein Amtsenthebungsverfahren gestartet wurde und er durch das weiße Haus irrte, schrieben die Zeitungen: „Wie ein König von Shakespeare!“ Immer, wenn wir in einer besonderen Entscheidungssituation stecken, ist unsere Vergleichsfolie ein Stück, eine Person von Shakespeare.

Wie man in Fernsehen und Kino sehen kann...

Günther: Was die Serie „House of Cards“ erzählt, geht im Grundmuster auf Shakespeare zurück. „Games of Thrones“ bedient sich zu 50 Prozent aus den Königsdramen von Shakespeare, zu 50 Prozen aus der englisch-schottischen Geschichte.

Shakespeare dreht das Rad der Fortuna

Es geht immer nur um – Macht?

Günther: Weil die Frage eine der wesentlichsten ist, die den Menschen bewegt. Geschlechtsverkehr hat einen ähnlich hohen Stellenwert. Es geht doch darum: Wer ist König, wer hat Macht, wer will Macht, wie erringt man Macht, wie hält man sich an der Macht, wie verliert man Macht, wen liebt man, wer liebt einen, wer liebt einen nicht? Und: Es hat seinen Grund, warum Fortuna, die Glücksgöttin, ihr Glücksrad, das unvorhersehbare Geschick die Menschen immer fasziniert. Shakespeare, das kann man so sagen, dreht dieses Rad für seine Figuren.

Haben Sie ein Lieblingsdrama?

Günther: Das kann ich nicht sagen. Ich könnte nicht sagen, dass mir der „Lear“ lieber ist als meinetwegen die „Komödie der Irrungen“. Es gibt nur einige Stücke, die einen besonders beschäftigen. „King Lear“, der gehört auf jeden Fall dazu, der „Coriolan“ hat mich früher genervt, heute fasziniert er mich und gibt mir Rätsel auf, die Identitätsspiele der Liebe interessieren mich nicht mehr so, vielleicht auch, weil mich das früher so zu sehr beschäftigt hat. Der Sommernachtstraum? Ja, das ist ein Alltime Hit. Shakespeare ist interessant, weil er zu allem, was er erzählt, Alternativen anbietet. Er und der Konjunktiv sind ein Team. Seine Figuren erzählen nicht nur von Problemen, sie erzählen immer auch von den Möglichkeiten. Sie erzählen von ihren Sehnsüchten, sie träumen, und wenn eine Figur etwas erzählt, dann erzählt sie nicht nur den Moment, sondern macht auch immer Varianten deutlich. Shakespeares Figuren machen ein Problem in assoziativen Räumen auf, in denen man sich verlieren, in denen man aber auch Möglichkeiten finden kann.

Der Zuschauer wird zum Co-Autor

Faszinierend auch deswegen, weil er im Sommernachtstraum klar macht, wie wenig wir unseren Augen trauen können?

Günther: Ja, gerade das Phänomen, wie wir die Wirklichkeit wahrnehmen, ist im Sommernachtstraum wichtig. Was passiert denn, wenn Puck einem etwas in die Augen träufelt? Die Figuren glauben, dasselbe zu sehen, wie zuvor, aber: Sie verstehen es anders. Die Weltwahrnehmung wird zu einem ironisch gebrochenen Problem. Ist es so, oder ist es ganz anders als es aussieht? Shakespeare steuert den Zuschauer immer dazu, er gewährt ihm eine überlegene Position: Der Zuschauer weiß meistens mehr als die handelnden Personen, er kann immer ihren Irrwegen folgen, den Selbsttäuschungen, mit Erstaunen, mit Schrecken. Alle seine Figuren interpretieren die Welt und versteigen sich immer. Mit der Chance, Fehldeutungen vor der Figur selber zu bemerken – da ist der Zuschauer immer aufgefordert, aktiv mitzudenken; er wird immer zum Co-Autor Shakespeares. Wenn man es nur runterliest, erschließt sich das einem nicht. Im Theater aber denkt man: Was will der eigentlich, jenseits seiner Worte?

Tja, und dann kann es passieren, dass Malvoglio am Ende das Opfer ist und die anderen die eigentlichen Arschgeigen...

Günther: Dass der Zuschauer die überlegene Position hat, bedeutet nicht, dass der Zuschauer das überlegene Wissen hat. Und vor allem nicht, dass er unbedingt damit etwas anfangen kann. Shakespeare führt die Sympathien der Zuschauer aufs Glatteis. Bis sie entdecken, dass es da noch andere Seiten gibt. Dieses Konfrontieren mit anderen Perspektiven, diese Multiperspektivität, bietet ein so reiches Angebot, dass der Zuschauer verwirrt ist. Und da bleiben natürlich offene Fragen. Bei Shakespeare gibt es immer die Rückkehr zu einer Ordnung. Aber man weiß, diese Ordnung ist nur eine Scheinordnung.

Denkt einfach, ihr seid eingeschlafen

Und der Schluss manchmal nur ein scheinbarer Schluss...

Günther: Ja, der Sommernachtstraum hat sogar fünf Schlüsse hintereinander. Puck gibt dann ja den Zuschauern am Ende die Empfehlung: Wenn ihr nicht weiterwisst, denkt einfach, ihr seid eingeschlafen und habt alles nur geträumt.

Ich mag beim Sommernachtstraum solche albernen Wortspiele wie „das Beste von Bestien“. Was ist denn Ihr Lieblingszitat?

Günther: „Das Beste von Bestien“, bei der Handwerker-Szene mit dem Auftritt des Löwen, ja, das ist sehr schön. Gut, bleiben wir doch gleich beim Sommernachtstraum:

Dass ich alte Sprüche klopf,

Jeder Deckel kommt zum Topf.

Morgen früh brummt euch der Kopf.

Gleich und gleich gesellt sich gern,

Alles Böse sei euch fern.

Jeder Hengst kriegt seine Stute – alles Gute.

"Heute wäre er ein Plagiator"

In vielen modernen Inszenierungen kommt Shakespeare ganz schön deftig, geradezu obszön rüber. Da gab es mal eine Inszenierung des „Othello“ an den Münchner Kammerspielen, die seinerzeit für einen Skandal sorgte.

Günther: Ja, die Kammerspiele haben behauptet, dass es Shakespeare war. Das glaube ich aber nicht. Es war eine Überschreibung von Shakespeares Text. Wie schon der Text von Shakespeare eine Variante der Othello-Ur-Geschichte war. Eine Methode, die zum üblichen Recycling europäischer Erzählungen in der Renaissance gehört, wie gerade Shakespeare es betrieben hat. Shakespeare war ja kein wahnsinnig kreativer Autor, der unglaublich viel erfunden hätte. Nein, er hat viel übernommen, Themen und Geschichten anderer Autoren. Das war ein völlig übliches Verfahren, es galt geradezu als Hommage, eine gute Geschichte immer und immer wieder zu bearbeiten. Heute wäre er ein Plagiator. Er hat eine Geschichte genommen, sie aber ganz neu erzählt. Und zwar auf unvergleichliche Art und Weise. Darin liegt seine Qualität.

Sie sind auch Theaterregisseur. Beeinflusst das ihre Arbeit als Übersetzer?

Günther: Ganz sicher , das hat meine Übersetzungen schwerst beeinflusst. Diese Texte wurden von einem Schauspieler fürs Theater geschrieben. Es sind Texte von einem Profi, der auf der Bühne stand, der geschrieben hat für sich und seine Kollegen, aus der Praxis für die Praxis. Der Schreibtischtäter weiß wenig von dem, was Sakespeare wusste, eben: Was gesprochene Sprache bedeutet. Dass sie anderen Gesetzen gehorcht als die Sprache, die in einem Roman gesprochen wird.

"Maulhurereien und feinstsinniges Geplauder"

Shakespeare gebraucht diese Sprache virtuos und passt sie auch unterschiedlichen Milieus an. Wie werden Sie dem gerecht?

Günther: Shakespeares Sprache ist in der Tat nicht immer gleich, man findet ferkeligste Gossensprache, Geblödel, Maulhurereien, und dann wieder feinstsinniges Geplauder und hohes donnerndes Pathos. Es gibt eine riesige Bandbreite, er gebraucht alle möglichen Rederegister, Soziolekte und Idiolekte, eine jede Figur hat ihren eigenen Sprachgestus, ihren eigenen »Ton«. Will man es nachdichten, wird es nicht so sehr eine Sache der philologischen Wortgenauigkeit, sondern der theatralischen, poetischen. Schauen wir uns wieder den „Sommernachtstraum“ an: Da reimt er, aber auf drei verschiedende Arten. Wenn sich die Liebespaare unterhalten, hört man einen mechanischen, außerordentlich nervtötenden fünfhebigen Jambus, bei der sich Reim plump auf Reim setzt wie eine Blei-Ente auf Küken - eine sehr alte, sehr simple Dichtform, die eine gewisse Komik hat. Ein berühmter englischer Kritiker fand, es sei das Schlechteste gewesen, was er je geschrieben habe, eine bloße Fingerübung womöglich. Als so schlecht empfindet das fein geschulte englische Ohr diese Sprache. In der Welt der Geister dagegen fließt jeder Satz wie selbstverständlich über den Reim hinweg, was eine wunderbar schwebende Lyrik entstehen lässt. Da klappert gar nichts. Das ist bewusste Verskunst. Die dritte Reimebene ist die der Handwerker mit ihrem Stück im Stück über Pyramus und Thisbe. Sie können weder Theaterspielen noch dichten, doch beides machen sie ausgiebig. Das ergibt Texte von unfreiwilliger Komik. Schlegel versucht in seinen Übersetzungen zu reimen, so gut wie es geht, er behandelt aber alle drei Stilebenen gleich. Mein Bemühen war ganz im Gegenteil, die stilistischen Unterschiede deutlich zu machen. Das sind drei verschiedene Sprachwelten.

Inspiration bei Goethe und Rilke

Wie erschaffen Sie die?

Günther: Was ist schöne deutsche Lyrik, was ist unfreiwillig komisch? Wilhelm Busch hatte ich oft neben mir liegen für die klappernde Sprachwelt der Verliebten, um zu sehen, wie man mal ernst ist und doch die Sache ironisiert, wie etwas witzig und boshaft ist und doch gleichzeitig ganz traurig sein kann: "Hier sieht man Fritz, den muntren Knaben/ Der möchte einen Raben haben." Für die Geisterwelt holte ich Anregungen bei Goethes Naturlyrik, auch bei Georg Trakl und Rainer Maria Rilke, für eine lyrische Sprache, die wie selbstverständlich fließt und Reime nur wie Klang-Echos nutzt. Für die Handwerker ließ ich mich von Friederike Kempner inspirieren.

Der schlesische Schwan...

Günther: Ja, ihr Künstlergedicht zum Beispiel:

Willst gelangen du zum Ziele/ Wohlverdienten Preis gewinnen, / Muß der Schweiß herunterrinnen, / Von der Decke bis zur Diele.

Das hat was. Das ist unfreiwillige Komik von höchster Qualität.

"Man liest Shakespeare ja nicht als Baedeker"

Was mich immer beschäftigt hat: Warum liegt bei Shakespeare Böhmen am Meer?

Günther: Weil er's nicht wusste: Er war ihm auch wurscht, es war weit weg, darauf kam es nicht so genau an. Er wusste vieles nicht. Er kannte auch die italienische Geographie nicht. Padua sucht er in der Lombardei. Von Verona nach Mailand benötigt er eine Seereise. Aber man liest ihn ja auch nicht als Baedeker nach Italien.

Shakespeare beflügelt offenbar sogar die englischen Kicker. Kann es Zufall sein, dass Leicester auf den Titel zusteuert, kaum dass der Schurke Richard III. endlich eine würdige Ruhestätte erhalten hat?

Günther: In solchen Dingen gibt es keine Zufälle, das ist höhere Fügung, Willi was here. Richards Knochen mussten unter diesem Parkplatz in Leicester gefunden werden. Irgendwann kommt alles ans Licht, wenn man nur die richtigen Gedanken hat.

Es kommt sogar ans Licht, dass Richard III. in Wahrheit wohl gar nicht so schurkisch war...

Günther: Dieser Erzschurke war eine Erfindung Shakespeares. Der authentische Richard war aller Wahrscheinlichkeit gar nicht so übel.

Der Erzschurke also ist endgültig gestorben. Dafür ist sein Schöpfer unsterblich.

Günther: Mindestens.

Zur Person:  Frank Günther

Frank Günther (Jahrgang 1947) arbeitete selbst als Regisseur . Seit über vierzig Jahren übersetzt er Shakespeares Werke. Inzwischen liegen 34 der insgesamt 37 dramatischen Stücke vor. Für seine herausragenden Übertragungen wurde er u.a. mit dem Christoph-Martin-Wieland-Preis, dem Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis und dem Johann-Heinrich-Voß-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung ausgezeichnet. Seine Bücher und Übersetzungen erscheinen bei dtv, zuletzt „Unser Shakespeare“, 14,90 Euro.

Zum Theater: Wo Shakespeare in der Region zu erleben ist

Am Staatstheater Nürnberg finden sich derzeit "Romeo und Julia" und '"King Lear" auf dem Spielplan. Am Theater Hof feiert "Was ihr wollt" am 14. Mai Premiere. Und die Studiobühne Bayreuth hat Shakespeare in ihrem Sommerspielplan: Am 4. Juni feiert der "Sommernachtstraum" im Römischen Theater in der Eremitage Premiere.