Religiöse Bräuche Warum verehrt die katholische Kirche Reliquien?

Markus Brauer

Von der Dornenkrone Christi über die Windeln und Vorhaut Jesu bis zum Turiner Grabtuch: Millionen gläubiger Katholiken verehren Reliquien und pilgern zu den Orten, an denen die heiligen Überbleibsel aufbewahrt werden. Was hat es mit dieser religiösen Verehrung auf sich?

 
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Turiner Grabtuch: Das im Dom von Turin aufbewahrte Tuch aus Leinen (auf dem Foto ist ein Positivbild zu sehen) zeigt Blutspuren und den Abdruck eines menschlichen Körpers. Foto: picture alliance/dpa

„La Sainte Couronne du Christ“, die Dornenkrone Christi, gilt als eine der wertvollsten Reliquien der katholischen Kirche. Sie wird in La Cathédrale Notre-Dame de Paris, der Kathedrale Notre Dame von Paris, aufbewahrt.

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La Sainte Couronne du Christ“: Die Dornkrone Christi

"La Sainte Couronne du Christ" ist gemäß christlicher Tradition die aus Dornen geflochtenen Krone, die Jesus von Nazareth bei der Kreuzigung in Jerusalem von römischen Soldaten auf sein Haupt gesetzt wurde. Foto: Remy De La Mauviniere/AP/dpa

Beim Brand der Kathedrale im April 2019 war „La Sainte Couronne" aus der Flammenhölle gerettet worden. Die Reliquie war von König Ludwig von Frankreich im Jahr 1237 in Konstantinopel erworben worden. Zu ihrer Aufbewahrung ließ der Monarch eigens die Sainte-Chapelle in Paris erbauen. Heute ist die Reliquie dieser Krone nur noch ein kahler Kranz, dessen Dornen im Laufe der Jahrhunderte als Einzelreliquien verteilt wurden.

Die vier Evangelisten berichten im Neuen Testament der Bibel, dass Jesus von römischen Soldaten eine Dornenkrone aufgesetzt wurde. Zusammen mit einem Schilfrohr als Zepter und einem roten Umhang statteten ihn die Legionäre zum Spott mit „königlichen“ Attributen aus, während sie ihn geißelten und als "König der Juden" verhöhnten.

Reliquien: Gegenstände religiöser Verehrung

Die Reliquienverehrung ist ein essentieller Bestandteil katholischer Volksfrömmigkeit. In der evangelischen Kirche ist dieser Brauch hingegen unbekannt. Für den Reformator Martin Luther (1483-1546) waren Reliquien „alles tot Ding“.

Reliquien (von Lateinischen „reliquiae“: das Zurückgelassene, die Überbleibsel) sind Gegenstände religiöser Verehrung. Besonders Körperteile oder Teile des persönlichen Besitzes eines Menschen, der von der Kirche als Heiliger verehrt wird, gehören hierzu. Daneben gibt es Berührungsreliquien wie etwa Kleidungsstoffe, mit denen der/die Heilige in Berührung kam oder gekommen sein soll.

Drei Klassen von Reliquien

Reliquie ist nicht gleich Reliquie. Nach katholischem Verständnis gibt es Reliquien erster Klasse: der Leichnam eines Heiligen oder Teile davon wie das Herz der spanischen Ordensgründerin Teresa von Avila (15115-1582), die Blutreliquien von Johannes Paul II. (1920-2005) oder die Asche von Heiligen, die verbrannt wurden.

Bei Reliquien zweiter Klasse handelt es sich um Gegenstände, welche Heilige berührt haben sollen, weshalb sie auch Berührungsreliquien genannt werden. Zu dieser Kategorie gehören beispielsweise das Turiner Grabtuch oder Folterwerkzeuge, mit denen Märtyrer zu Tode gepeinigt wurden.

Reliquien dritter Klasse schließlich sind Gegenstände, die von Reliquien erster Klasse berührt wurden – etwa kleine Papier- oder Stofffetzen, die auf eine Reliquie erster Klasse gelegt und auf Heiligenbildchen geklebt wurden.

Blutstropfen von Johannes Paul II.

Reliquie von Papst Johannes Paul II. im Kölner Dom: Sie enthält einen Blutstropfen des verstorbenen Papstes.  Foto: dpa
Diese Reliquie steht in der Kapelle eines Altenheimes im niedersächsischen Laatzen: Es handelt sich um Haare von Johannes Paul II., die dem Altenheimdirektor in Polen geschenkt wurden und hinter Panzerglas in einer Einlassung des Altars zu sehen sind. Foto: d/pa

Der Kölner Dom verfügt seit September 2017 wieder über eine Blutreliquie von Johannes Paul II. Die erste Ampulle wurde am 9. Dezember 2013 überreicht und am 4. Juni 2016 von Unbekannten gestohlen.

Es handelt sich um ein Stoffläppchen mit einem Tropfen päpstlichen Blutes, das von einer medizinischen Untersuchung stammt. Diese fand bei einem Luftröhrenschnitt wenige Wochen vor dem Tod des Papstes am 2. April 2005 statt. Johannes Paul II. wurden damals mit Blick auf eine mögliche Bluttransfusion vier Ampullen Blut abgenommen worden, die danach nicht mehr gebraucht wurden.

Die behandelnden Ärzte übergaben die Ampullen dem damaligen Papstsekretär und emeritierten Krakauer Erzbischof und Kardinal Stanislaw Dziwisz, der 2011 erklärte, solche Blutreliquien hätten in der katholischen Kirche eine lange Tradition.

Symbol der Anwesenheit eines Heiligen in der Welt

Der damalige Anwalt des Seligsprechungsverfahrens des Papstes, Slawomir Oder, stellte fest, dass Reliquien „kein magischer Fetisch“ seien. Sie seien dazu da, „in unseren Herzen die Dankbarkeit für das Geschenk der Person Johannes Paul II. zu erreichen“. Reliquien seien ein Symbol der Anwesenheit eines Heiligen in der Welt.

Kirchenrecht verbietet Reliquien-Handel

Bis heute verbietet das katholische Kirchenrecht den Verkauf von Reliquien. Im „Codex Iuris Canoici“, dem kirchlichen Rechtsbuch (Canon 1190 CIC) heißt es: „Es ist verboten, heilige Reliquien zu verkaufen. Bedeutende Reliquien und ebenso andere, die beim Volk große Verehrung erfahren, können ohne Erlaubnis des Apostolischen Stuhls auf keine Weise gültig veräußert oder für immer an einen anderen Ort übertragen werden. Die Vorschrift des § 2 gilt auch für Bilder, die in einer Kirche große Verehrung beim Volk erfahren.“

Symbolik statt Wissenschaft

Im Aachener Dom werden im Marienschrein vier auf Jesus Christus verweisende Tuchreliquien aufbewahrt. Nach der Überlieferung handelt es sich um Reliquien aus Jerusalem: das Kleid Mariens aus der Heiligen Nacht (im Bild), die Windeln Jesu, sein Lendentuch und das Enthauptungstuch Johannes des Täufers. Foto: dpa
Die Beschneidung Christi: Spanische Briefmarke aus demJahr 1969. Foto: Imago/Imagebrok/er

Für das katholische Verständnis von Reliquien ist es unerheblich, ob ihre Echtheit wissenschaftlich bewiesen ist. Es geht vor allem um die theologische Symbolhaftigkeit. So wird im Trierer Dom der Heilige Rock, ein unscheinbarer braun-grauer Rock, als Symbol für die Menschwerdung Jesu verehrt. Es ist sinnfälliger Ausdruck der Heilsgeschichte, die nur im Glauben erfasst werden kann.

Zahlreiche andere fromme Relikte fanden im Mittelalter den Weg über die Alpen. Im Aachener Dom etwa werden seit Jahrhunderten vier kostbare Heiligtümer aufbewahrt: die Windeln Jesu, das Lendentuch Christi, das Kleid der Maria und das Enthauptungstuch Johannes des Täufers. Alle vier Jahre findet die Aachener Heiligtumsfahrt statt, bei der diese Reliquien den Gläubigen gezeigt werden.

Heiliger Rock und Turiner Grabtuch

Ausstellung des Turiner Grabtuchs (Sacra Sindone) im Jahr 2015 in Turin. Foto: Imago/Italy Photo Press
Der Heilige Rock wird in einem Altar in der gleichnamigen Kapelle in der Domkirche von Trier aufbewahrt. Foto: d/pa

Der Heilige Rock in Trier gehört wie das Turiner Grabtuch zu der Kategorie Reliquien, die nicht von einem Heiligen stammen, sondern auf das Leben Jesu von Nazareth zurückgehen. Während das Turiner Grabtuch, ein 4,36 Meter langes und 1,10 Meter breites Leinentuch, das Ganzkörper-Bildnis der Vorder- und Rückseite eines Menschen zeigt, handelt es sich beim Trierer Artefakt angeblich um Rudimente der Tunika Christi.

Die Authentizität des Heiligen Rocks ist – wie auch die anderer Reliquien – umstritten. Auch die katholische Kirche erhebt nicht den Anspruch auf historische Echtheit, sondern beschränkt sich darauf, die analysierten Stoffschichten akribisch aufzulisten.

Die „heilige Vorhaut Jesu“

Die Beschneidung Jesu: Kupferstich aus dem Jahr 1765. Foto: Imago/Heritage Images

In der Kirchengeschichte hatte der Reliquienkult bisweilen bizarre Züge angenommen. So wurde über Jahrhunderte die „heilige Vorhaut“ (lateinisch: „Sanctum praeputium“) verehrt, bei der es sich angeblich um die Vorhaut Jesu handelte.

Da nach christlichem Glaubens Jesus Christus bei seiner Himmelfahrt leiblich aufgefahren ist, sollen von seinem Körper nur jene Bestandteile auf Erden verblieben sein, die er zu jenem Zeitpunkt nicht mehr bei sich hatte.

Im Lukas-Evangelium Kapitel 2, Vers 21 heißt es: „Und als acht Tage um waren und man das Kind beschneiden musste, gab man ihm den Namen Jesus, wie er genannt war von dem Engel, ehe er im Mutterleib empfangen war.“ Das Fest der Beschneidung des Herrn wird von der katholischen Kirche am 1. Januar gefeiert.

Die Reliquie der Heiligen Vorhaut soll Papst Leo III. vom fränkischen König Karl dem Großen anlässlich seiner Kaiserkrönung am 25. Dezember 800 in Rom geschenkt worden sein. Der Frankenherrscher wiederum soll sie von einem Engel oder von der byzantinischen Kaiserin Irene bekommen haben.

Nach einigen Stationen wurde die Heilige Vorhaut ab dem 16. Jahrhundert in der Pfarrkirche des italienischen Ortes Calcata aufbewahrt, wo sie bei Prozessionen öffentlich gezeigt wurde. Im Jahr 1983 verschwand sie schließlich und wurde seither nicht mehr gesehen.

Niederlande – Paradies für Reliquien-Sammler

Die Niederlande sind ein Paradies für Sammler kirchlicher Kunst und Reliquien. Das 1972 von Joannes Peters gegründete Unternehmen Fluminalis in der kleinen Gemeinde Horssen in der Provinz Gelderland wirbt auf seiner Internetseite damit, „weltweit das führende Unternehmen im Verkauf von kompletten Interieurs von Kirchen, Klöstern und Schlössern“ zu sein.

Neben Heiligenfiguren, Chorgestühlen, Messkelchen und ganzen Altären werden auch Reliquien angeboten – wie von der heiligen Albina aus Köln, vom heiligen Leonard oder von der Tunika des heiligen Dominik.