Ausgerechnet die „Walküre“ – sowohl Castorf wie auch Wagner ist hier das Kunststück gelungen, nicht viel mehr als sehr viel Vorgeschichte und Kontext zu verarbeiten, Wagner in Musikdrama-Form, Castorf in dessen Inszenierung: als kleine Geschichte der Ölförderung, die auch eine Geschichte des Wohlstands und des Aufstands ist. Und ihr Ende fühlt sich an wie ein dramaturgisch voll funktionstüchtiges Ende, Ende gut, alles gut, obwohl es doch das Gegenteil ist, ein großer Spannungsvorhalt, bis Siegfried im dritten Aufzug des gleichnamigen nächsten „Ring“-Teils Brünnhilde wieder wachküsst.
Die "Walküre" allein - warum nicht?
Kann man, darf man das nun aus dem Kontext der anderen Opern herauslösen? Natürlich. So, wie man auch ins Museum gehen und dort nur ein Bild ansehen darf.
Bis vor ein paar Jahren war es noch möglich, Karten auch für einzelne „Ring“-Teile zu kaufen, nicht nur für alle vier, und die Festspielleitung überlegt seit Jahren laut, wieder dazu zurückzukehren, nicht nur, aber auch, weil „Ring“-Tickets mit Anreise und Hotel ungefähr so viel kosten wie ein kleines, nicht allzu schlechtes Auto.
Es ist die bequemste und - nicht nur in finanzieller Hinsicht - die billigste Art, sich der castorfschen „Ring“-Assoziationsmaschine anzunähern. So leicht, so sinnlich, so ergreifend wie hier ist der „Ring“ sonst nicht zu haben.
So leicht ist der Ring sonst nicht zu haben
In der Castorf-Deutung ist die „Walküre“ auch die gedankenschwerste, theoretischste, mit ihrem Überbau trockenste Oper – aber, und das ist das Kunststück, vom Zuschauerraum aus fühlt sich dies ganz und gar nicht so an, im Gegenteil: diese kleine Geschichte der Ölförderung und des Traums von der Revolution, die so absurd dicht und überladen bebildert daher kommt, dass sie mindestens auf der Bühne niemand so ganz versteht, aber das macht nichts, man muss überhaupt nicht hineinbeißen in den Kuchen, allein der Geruch macht die Sache schon attraktiv. Man kann sich die Überforderung ja auch von außen ansehen und sich an den erhitzten Gedanken das Rückgrat wärmen.
Weil der erste Aufzug in sich wie eine kleine Binnen-Oper funktioniert, so, wie man sich gerade als Teilzeit-Kulturfreund Opern viel öfter wünscht: eine gute Stunde, ein klarer Plot – Mann trifft Frau, die mit anderem Mann liiert ist, weil beide aber füreinander bestimmt sind, kriegen sie einander trotzdem, kleine Arie noch, dann Vorhang.
Wann erschlägt man schon einen Drachen?
Erst im zweiten Aufzug bricht dann der gewaltige Überbau über die Zuschauer herein, dazu die komplexe, episch erzählte Vater-Tochter-Problematik zwischen Wotan und Brünnhilde. Ein Stück Musiktheater mit Bravourstellen für fast alle Beteiligten: die „Wälse“-Rufe, dann „Winterstürme wichen dem Wonnemond“ für Siegmund“, die Hojotoho-Rufe für Brünnhilde, Wotans Abschied, vorher die große Erzählung, der Walkürenritt, das „Hehrste Wunder“ von Sieglinde, die musikalisch das Schlussmotiv der „Götterdämmerung“ anreißt.
Und sicherlich ist die „Walküre“ auch die menschlichste Oper, ein Stück, in dem man leichter sein Spiegelbild findet als in den anderen Stücken. Wann erschlägt man schon mal einen Drachen?
Hohe Qualität
Aber noch ist nicht nächstes Jahr. Und es ist nicht nur nicht sicher, sondern ausgesprochen fraglich, ob im besagten nächsten Jahr die musikalische Qualität auch nur annähernd das Niveau der Premiere dieses Jahres erreicht. Denn nach dem musikalisch zwar farbenfrohen, aber flattrigen „Rheingold“ setzt Dirigent Marek Janowski jetzt zu ruhigeren, souveräneren Flügelschlägen an. Da sind sie ja, die Nuancen, die in der Partitur stecken, und Janowski wagt sich auch in heikler Akustik an die Extreme. Langsamer als in Brünnhildes Todesverkündung geht es nicht, schneller als im Vorspiel zum ersten Aufzug auch nicht.
Und meist geht es gut.
Das Walhallmotiv im Blech ist nie stolz und erhaben, sondern eher raunend in sich gekehrt, auch in der Musik ist Wotan kein stolzer Gott. Immer wieder lässt er die Klangmassen mit scharfen Fortissimo-Klarinetten aufschneiden, damit Luft hineinkommt, immer wieder lässt er auch das gestopfte Blech durch die Akkorde schmettern, damit die Blockbuster-Wagnermusik, aus der die „Walküre“ größtenteils besteht, nicht zu dick und warm und rund daher kommt. „Die Walküre“, sie kann auch erbärmlich kalt sein - jedenfalls für die Ohren, denn im Zuschauerraum des Festspielhauses sind Kühle und Kälte an diesem Abend nicht einmal mehr abstrakte Gedankenmodelle, so drückend hängt die Hitze unter dem Dach.
Sänger bringen Höchstleistungen
Der Abend verleitet die Sänger zu Höchstleistungen - und verführt sie hörbar, an ihre Grenzen zu gehen. Weniger Christopher Ventris als Siegmund, Camilla Nylund und Georg Zeppenfeld als Hunding, die danach wie das gesamte Ensemble lautstark und mehr als 20 Minuten lang gefeiert werden. Auch nicht Catherine Foster, die als Brünnhilde in jedem Jahr der Produktion ein Stückchen weiter wuchs. John Lundgren als Wotan hat einen großartigen Abend und singt souverän auf eine Weise, die aber nicht vergessen macht, was für eine Ausnahmepartie diese Rolle doch ist, und dass es eine kluge Krafteinteilung braucht, um nicht vor dem Ende schon am Ende zu sein. Und selten war der Walkürenritt so aufgeräumt, textverständlich und tonsicher wie diesmal.
Ein guter, ein herausragender Abend
Das Festspielorchester zeigt sich davon unbeeindruckt. Musikalisch gehört die „Walküre“-Premiere mit „Tristan“ und „Parsifal“ zu den besten Abenden, nicht nur an den pathosschweren Stellen, auch in den leisen, intimen, bei den Soli von Cello und Klarinette. Hier und heute bedeutet Musikdrama wieder das, was es sein soll, und nicht Drama und Musik dazu.
Und sicher, die große Wotan-Erzählung ist auch im fünften Jahr der Produktion szenisch nichts anderes als eine Zumutung - keine Bewegung, nicht die allerkleinste, nur: stehen und singen. Besonders nett ist das nicht, aber darum geht es ja nun wirklich nicht - treffender lässt sich der Kern der Szene für Castorf nicht freilegen: Ein alter Mann erzählt von früher und ertrinkt in Selbstmitleid. Warum, fragt die Regie durch diese Szene, warum sollte das schön sein?
Und natürlich ist es auch längst kein Geheimnis mehr, dass sich Castorf so richtig nur bei den Szenen anstrengen wollte, die sich aus seiner Sicht lohnen. Das sind nicht unbedingt die Momente mit der meisten Action, aber etwa jener Augenblick in Wotans Abschied, als aus der Scheune der Ölplantage eine gewaltige rostige Ölförderpumpe herausrollt und zu arbeiten beginnt - mit zwei roten Lampen am hoch- und niedergehenden Pump-Arm, als wäre es ein verständiges, resigniertes, aber treues Tier.
Wahrscheinlich hätte Castorf die Wotan-Erzählung aber ohnehin gestrichen.
Castorf ist Wotan. Ein bisschen zumindest
Und natürlich ist er, der Regisseur, hier auch selbst ein bisschen Wotan, die "Walküre" ist eine einzige große, selbstmitleidig in nostalgische Farben getauchte Geschichte von früher. Wie, bitteschön, schafft er das: einen mit einer Ölplantage so zu ergreifen? Sind das wirklich nur der Nebel, die Lichterkettenbirnchen im Bühnenbild und das melancholisch guckende Ölpumpentier? Sind Menschen, wenn sie im Opernpublikum sitzen, so leicht zu kriegen? Hat Castorf vielleicht doch sehr viel sehr richtig gemacht mit dieser Inszenierung, so schnell und so improvisierend sie auch entstanden ist? Oder stellt sich Castorf mit seinen vielen Thesen doch einfach nur auf die Schultern der Musik? Wahrscheinlich stimmt alles, mindestens ein bisschen.
Und, genau genommen, ist das alles sowieso alles andere als schön.
Es wird gestorben, erschlagen, ausgebeutet, in die Luft gejagt. Kann man, darf man das schön finden? Nein, darf man natürlich nicht. Aber manchmal - und auch das lehrt nicht zuletzt Castorfs Sichtweise auf die „Walküre“ - muss man auch mal was Verbotenes tun.