Natalie Weichert hat seit zehn Jahren eine Essstörung Mein Leben mit der Bulimie

Von Martina Bay
Foto: Jens Kalaene/dpa Foto: red

Hätte Natalie Weichert bloß nicht genauer hingehört. Es war vor zehn Jahren. Klassenfahrt. Ein Gespräch unter zwei Jungs. „Sie ist zu dick“, sagte der eine zum anderen. Der Satz war das i-Tüpfelchen, der Weg in ihre Essstörung.

 
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Ihre Figur war schon vor diesem einen Satz ein Thema. „Es war völlig normal, dass man abnehmen wollte. Alle Mädchen fanden sich zu dick“, sagt Weichert (Name von der Redaktion geändert).  Das sei wie ein Gruppenzwang gewesen. Auch Weichert hielt sich für zu dick, aber sie war es nicht. Sie wog bei einer Größe von 1,57 Metern 52 Kilogramm. Sie wollte zum Club der „Wir-Müssen-Abnehmen-Mädchen“ dazugehören.

Mit den ersten verlorenen Kilos kamen die Komplimente, das Selbstbewusstsein stieg. Sie war in der Schule eher ruhig und angepasst. Eine gute Schülerin. Jetzt meldete sie sich öfters im Unterricht. „Am Anfang lief es sehr gut, doch dann wurde alles extremer“, sagt Weichert.

In Natalies Welt sind die Lebensmittel gut und böse

Sie entwickelte ein Wertesystem für Nahrungsmittel. Es gab die guten und die bösen Nahrungsmittel. Die Vollmilch war böse, der fettige Käse sowieso. Am Anfang aß sie zum Frühstück noch Haferflocken mit Milch, zum Schluss nur noch einen Apfel. Auch ihre anderen Mahlzeiten wurden immer kleiner.

Mit der geringen Nahrungsaufnahme kam der Heißhunger. Heißhunger auf die bösen Nahrungsmittel wie Schokolade und Chips. Auf herzhafte Speisen wie Nudel- oder Kartoffelsalat. Doch was böse ist, passte nicht in das Wertesystem von Weichert. Deswegen aß sie die bösen Lebensmittel heimlich. Um sie danach wieder auszuspucken. So rutschte sie in die Bulimie.

Für das Erbrechen holt sie sich Tipps von Gleichgesinnten

Das Erbrechen klappte nicht sofort. Sie suchte im Internet nach Tipps von Gleichgesinnten. Möglichkeiten, die das Übergeben erleichtern. „Das Erbrechen war ein richtiges Erfolgserlebnis. Ich dachte, jetzt ich kann mich mit Essen vollstopfen und danach alles wieder auskotzen“, sagt Weichert. Ihr Wertesystem für Nahrungsmittel war wieder intakt.

In ihrer schlimmsten Zeit – da war sie Mitte 20  – übergab sie sich dreimal am Tag. Auf das Studium konnte sie sich nicht mehr konzentrieren. Ihr Tag bestimmten das Essen und das Erbrechen. Sie überlegte sich schon am Morgen, welche Lebensmittel sie einkaufen geht. „Ich bin immer in verschiedene Supermärkte gegangen. Es sollte doch keiner mitbekommen, welche Essensmengen ich mir kaufe“, sagt Weichert.

Essenseinladungen waren die Hölle

Auch ihren Kommilitonen erzählte sie nichts. „Ich war wie ein schwarzer Strudel, ich wollte niemanden mitrunterziehen. Es war mir auch so unangenehm“, sagt sie. Wenn sie mal zum Essen eingeladen wurde, brach bei ihr Panik aus. „Das war die Hölle“, sagt sie. Ihr ganzer durchgeplanter Tag geriet aus dem Ruder. Vor anderen aß sie kontrolliert und gesund. War sie wieder alleine, stopfte sie alles in sich hinein. Und spuckte es danach wieder aus.

„Nach jedem Essanfall war ich wie taub“, sagt Weichert. Sie betäubte, was sie nicht fühlen wollte. Die Leere, die Wut, die Einsamkeit. Kleine Dinge, die sie ganz schnell aus der Bahn warfen: Ein Gespräch, das nicht so lief, wie sie es sich vorstellte. Oder den Semesterbeitrag, den sie vergessen hatte zu überweisen.

Sie spucke Blut, wurde depressiv

Weichert musste erst ganz unten ankommen, um zu erkennen, dass sie ein Problem hatte. „Ich hatte keine Kontrolle mehr.“ Sie spuckte Blut, wurde depressiv. „Ich habe mich wie eine Versagerin gefühlt. Ich dachte, jetzt kannst du nur noch aus dem Fenster springen.“

Doch sie ging in die Klinik. Lernte das erste Mal ihren Körper zu spüren. „Ich hatte immer das Gefühl, er wäre eine schlecht sitzende, fremde Hülle.“ Zwei Monate war sie in der Klinik. Sie nahm Antidepressiva, um die extremen Stimmungsschwankungen in den Griff zu bekommen. Dann ging sie in ambulante Therapie.

Ein Jahr ohne Erbrechen und Essanfälle

Seit diesem Jahr lebt die mittlerweile 28-jährige Studentin in Bayreuth. Ein Jahr hatte sie es mal geschafft ohne Essanfälle und Erbrechen. „Ich dache, ich hätte die Essstörung überwunden“, sagt sie. Aber sie kam zurück. Auch deswegen geht sie in die Selbsthilfegruppe für Essgestörte der Suchtberatung der Diakonie Bayreuth.

Die Versuchung ist groß, dass sie wieder rückfällig werden könnte. Besonders, wenn andere mit ihr über Diäten wie Low Carb oder das Fasten reden. „Wenn ich jetzt eine Woche fasten würde, würde ich mich hinterher wieder vollstopfen und danach alles wieder ausspucken.“

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Info: Die Selbsthilfegruppe für Essstörungen der Suchtberatung der Diakonie Bayreuth trifft sich jeden 1. und 3. Donnerstag um 19.30 Uhr in der Kolpingstraße 1. Vor der Teilnahme bei der Selbsthilfegruppe ist ein Termin bei der Suchtberatung erforderlich. Die Suchtberatung ist telefonisch erreichbar unter 0921/78 51 77 30. Öffnungszeiten: Montag bis Donnerstag: 8 Uhr bis 12 Uhr, 13 Uhr bis 17 Uhr. Freitag: 8 Uhr bis 12 Uhr, 13 Uhr bis 16 Uhr. 

Arten von Essstörungen:

Bei Esstörungen unterscheidet man zwischen Magersucht, Bulimie und Binge-Eating, wobei allen drei Essstörungen wesentlich mehr Mädchen und Frauen betroffen sind.

Magersucht (Anorexia nervosa): Bei der Magersucht führen die Betroffenen den Gewichtsverlust bewusst herbei. Sie sind auffallend dünn und finden sich auch dann noch zu dick, wenn sie schon untergewichtig sind.

Bulimie (Bulimia nervosa): Der Körper von Bulimikern ist meistens schlank, aber unauffällig. In kurzer Zeit werden große Nahrungsmengen gegessen und danach wieder erbrochen. Die Krankheit tritt meist zwischen 18 und 20 Jahren auf. Bei Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahren tritt die Magersucht am häufigsten auf.

Binge-Eating-Störung: Binge bedeutet Gelage. Es entsteht eine Situation, in der übermäßig viel gegessen wird. Im Gegensatz zu Bulimikern spucken sie das Essen im Anschluss nicht aus. Häufig sind die Betroffenen übergewichtig.

Mit Material der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung

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