In unserem Grundgesetz kommt dies Grundrecht nicht vor, wohl aber in der Liste der "zehn unantastbaren Rechte des Lesers", die der französische Autor Daniel Pennac erließ, und dort sogar an erster Stelle: "das Recht, nicht zu lesen". Wir Zeitungs- und Magazinabonnenten, Bücher- oder E-Book-Freunde können uns nicht vorstellen, es je für uns in Anspruch zu nehmen. Das Paradoxe daran: Darauf beharren kann nur, wer mit Fug und Recht ein Leser heißen darf. Verweigert ein notorischer Nichtleser die Lektüre, offenbart er nur seine Ignoranz - Erkenntnisfaulheit, das schlimmste Verbrechen wider den nach Gesundheit strebenden Menschenverstand. Ein weiteres Grundrecht formulierte, lang vor Daniel Pennac, sein deutscher Kollege Kurt Tucholsky: das Recht, "sich seine Schriftsteller auszusuchen"; was zugleich heißt: die meisten von ihnen absichtlich oder notgedrungen links liegen zu lassen, denn ihre Zahl ist Legion. Den Analphabeten ist dies Recht verwehrt, wie fast alle anderen der "unantastbaren Rechte" auch; freilich nicht, weil sie Ignoranten wären, sondern aus irgendwelchen Gründen leider nie recht zu lesen und zu schreiben lernten. Vom "Recht, nicht zu lesen", machen, wie berichtet, 6,2 Millionen unserer Mitbürger unfreiwillig mehr oder weniger Gebrauch - mit 12,1 Prozent ein erschreckend großes Kontingent der Deutsch sprechenden Bevölkerung zwischen 18 und 64 Jahren. Viele vermögen kein Telefonbuch und keinen Busfahrplan, weder Werbeprospekte noch Bankformulare, nicht Zeitung noch Buch zu entziffern. Kein Grund freilich, auf sie herabzublicken: Sie haben jede Hilfe verdient, desgleichen tiefes Bedauern, erfahren sie doch nie, was ihnen an heiterer oder tragischer, tiefgründiger und unterhaltender Prosa und Poesie entgeht. Ein Gutes hat der Mangel: Ihnen bleibt der Unsinn erspart, mit denen das Internet uns Leser ozeanisch überfluten will.