Der Ersthelfer:

„Ein Jahr vor dem Unfall hatten wir beim Roten Kreuz in Münchberg eine schnelle Eingreiftruppe gebildet. Das war die erste in der Gegend und der Einsatz in der Senke war unsere Premiere. Mit sechs Mann sind wir vor Ort gewesen, und ich denke, wir haben es ganz gut hinbekommen. Im Gegensatz zu heute konnten wir damals auf keinen ausgeklügelten Notfallplan zurückgreifen und die technische Ausrüstung der Rotkreuz-Gruppen war viel schlechter. Es gab wenige Funkgeräte, weshalb eine Koordination gar nicht so möglich war wie heute.
Erst als sich gegen Mittag der Nebel langsam lichtete, konnten wir das Ausmaß der Katastrophe erfassen. Doch so lange etwas zu tun war, hat keiner von uns groß nachgedacht. Das kam alles später. Am Abend zum Beispiel, als wir Unterricht hatten und erwachsene Männer plötzlich in Tränen ausbrachen. Auch eine psychologische Hilfe für die Helfer gab es damals nicht. Wir haben uns das unter uns von der Seele geredet und uns Mut gemacht. Das hat viel gebracht.
Was ich gelernt habe an jenem Tag: genau hinschauen und hinhören. Die Verletzten, die am lautesten schreien, sind selten die, die unsere Hilfe am meisten benötigen. Wo einer sich kaum oder nicht mehr meldet, da musst du hin als Ersthelfer. Ich habe noch viele schwere Unfälle erlebt, aber so schlimm wie an jenem Morgen in der Senke war es nie wieder. Zum Glück.“

Gerhard Hager von der BRK-Bereitschaft Münchberg



Der Journalist:

„Wir sind bei Münchberg-Süd auf die Autobahn aufgefahren und haben dort erst einmal die Gaffer fotografiert, die in einen Auffahrunfall verwickelt waren. Einer hatte Obst geladen, das über die Straße verteilt war. Dann nahmen wir die ins Bild, deren Autos es von der Fahrbahn Richtung Süden auf unsere Seite geschleudert hatte. Doch es sollte noch viel schlimmer kommen. Erst nach ein paar Minuten standen wir vor der eigentlichen Katastrophe. Eine fürchterliche Szene. Unsere Filme waren da schon voll. Ich habe meinen Kollegen Thomas Kropp gefragt, ob das Realität sei, was ich hier sehe, oder ob wir in einem Gruselfilm seien. Er hat nicht geantwortet. Wir stapften durch ein Gemenge von Kühlwasser, Benzin und Blut, während Notärzte und Sanitäter die Schwerverletzten versorgten. Hinter einem Wagen, der sich unter einen Viehtransporter geschoben hatte, lagen zwei zugedeckte Leichen. Der Beifahrer saß noch im Wagen. Ihm habe es, so sagte mir der kreidebleiche Feuerwehrkommandant, den Kopf weggerissen. Was mahnende Stimmen nach der Grenzöffnung prophezeit hatten, war eingetreten: eine Katastrophe auf der A 9. Bevor wir das Entsetzen beschreiben konnten, sind wir erst einmal um die Redaktion in Münchberg gegangen und haben eine geraucht. Die vom Blut getränkten Schuhe haben wir weggeworfen.“

Heinz Wolfrum war damals Redaktionsleiter der Münchberger-Helmbrechtser Zeitung und einer der ersten Reporter am Unfallort.


Der Kläger:

„Es war sehr bedrückend. Die beiden Kinder waren auf dem Rücksitz erstickt, während die Mutter vorne vier Stunden lang eingeklemmt war und nicht wusste, was hinter ihr passiert. Welche Höllenqualen die Frau da gelitten haben muss – man kann nur versuchen, sich das vorzustellen. Ich habe sie im Krankenhaus besucht, nachdem Reporter vom Stern die Lokalredakteure vor Ort darauf hingewiesen hatten, dass niemand sich um das Ehepaar kümmere. Den Prozess haben die beiden sich nicht angeschaut. Sie haben als Nebenkläger ihre Aussagen gemacht und sich anschließend von mir als ihren Vertreter unterrichten lassen. Aber sie wollten gar keine Details wissen und hatten auch nicht das Bedürfnis, dass der Fahrer für alle Zeiten im Knast landet oder so etwas. Der Gram über den Tod der Kinder überschattete alles und es war ihnen klar, dass das Urteil daran nichts ändern wird. Ich habe im Prozess zunächst darauf gedrungen, dass Andreas B. nie wieder einen Lkw fahren darf. Am Ende haben der Verteidiger und ich uns darauf geeinigt, dass sein Mandant sich verpflichtet, ein medizinisch-psychologisches Gutachten einzuholen, falls er irgendwann einmal wieder einen Antrag auf einen Lkw-Führerschein stellt. Ob das passiert ist, weiß ich nicht.“

Peter Froeschmann, Anwalt aus Münchberg. Er vertrat beim Prozess gegen den Fahrer des Milchlastwagens ein Ehepaar aus Gera, deren zweiTöchter (5 und 13 Jahre) in der Senke ums Leben gekommen waren.


Der Pfarrer:

„Ich kam dazu, als der Milchlasterfahrer gerade die Autos auf den Bus geschoben hatte. In diesem Moment hat mich die Realität überfordert und ich habe am eigenen Leib erfahren, was körperlicher Stress ist. Ich sah Autos brennen, Menschen gestikulieren und fragte mich: Was machst Du jetzt ? Wo fängst Du an ? Ich spürte die Angst, der Situation nicht gewachsen zu sein. Als ich Hilfe rufen wollte, hörte ich schon die Einsatzsirenen. Da bin ich erst einmal weinend zusammengebrochen. An dem Tag habe ich erlebt, was einem die Arbeit als Polizist alles abverlangt und worauf ich mich eingelassen hatte. Weil der Fahrer des Milchlastwagens verschwunden war, bat mich der Polizeipräsident, ihn zu suchen. Ich fand ihn auf einer Trage liegend und bot ihm ein Gebet an, doch Sanitäter brachten ihn weg. Wir sind oft schnell, wenn es darum geht, andere verantwortlich zu machen und mit dem Finger auf sie zu zeigen. Der Lkw-Fahrer war sicher zu schnell, aber ein Unfall ist eben auch ein Unglück. Für mich ist der Mann deshalb immer auch Opfer gewesen. Ich habe vieles über diesen Tag aufgeschrieben und offen darüber geredet. Dieser offene Umgang hat mir geholfen, im Laufe der Jahre eine professionelle Distanz aufzubauen. Aber wenn ich heute durch die Senke fahre, gehe ich immer noch auf die Bremse.“

Detlev Hapke begann Anfang Oktober 1990 seinen Dienst als Polizeipfarrer für Nordbayern. Er befand sich auf dem Weg nach Hof, als der Unfall passierte.


Der Gutachter:

„Wenn ich heute im Verkehrsfunk von der Münchberger Senke höre, weckt das keine Emotionen mehr in mir. Bei den vielen Toten, die ich in meinem Beruf sehe, ist es unumgänglich, dass man sich von menschlichem Leid nicht abhängig macht. Damals hat mich vor allem der Tod der zwei Mädchen sehr stark mitgenommen, die langsam auf dem Rücksitz erstickt sind. Dass die Mutter das miterleben musste, ohne helfen zu können, war das Grausamste, was ich jemals erlebt habe.
Das Gutachten war Schwerstarbeit. Die entscheidende Frage war immer: Wer ist für den Tod der zehn Menschen verantwortlich ? Schnell war klar, dass zwei ihren Tod selbst verursacht hatten, indem sie auf den Vordermann auffuhren. Vier Opfer waren dem Lasterfahrer ziemlich problemlos zuzuordnen, über die anderen konnte man streiten. Am Ende aber war ich mir sicher.
Ein Auto war zum Beispiel tief unter einem Bus eingekeilt. Wir fanden heraus, dass der Zündschlüssel nicht mehr steckte. Der Mann war also nicht sofort tot. Bei einem anderen war entscheidend, ob die Hauptschlagader nach hinten oder vorne durchgerissen war. Hier half uns die Rechtsmedizin der Uni Erlangen. Entscheidend ist letztlich die exakte Arbeit der Hofer Polizei gewesen. Der Rest war Physik.“

Dr. Ulrich Löhle lebt in Freiburg und ist Sachverständiger für Unfallursachen. Sein Gutachten war Grundlage für den Prozess gegen Lastwagen-Fahrer Andreas B.

Der Fahnder:

"Wenn ich an jenen Tag denke, kommen wir heute noch die Tränen. Es war furchtbar. Wie im Krieg. Die Kinder und Angehörigen, die apathisch an der Böschung der Senke saßen; die Splitter in den Leichen, weil die Trabis nicht gestaucht, sondern zerborsten waren. Oder der Stapel von Fahrzeugen. Der war tatsächlich höher als die Lkws und ganz oben haben sie gegen Mittag noch eine Frau mit einer Leiter herausgeholt. Lebend.
Mein Kollege und ich waren als einer der ersten am Unfallort, weil wir an diesem Vormittag in einer anderen Sache an der A 9 unterwegs gewesen sind. Ich war damals bei der Kripo Brandfahnder, aber natürlich sind wir sofort auf der leeren Autobahnseite mit Blaulicht Richtung Münchberg gerast. Es war eigentlich ein sonniger Herbsttag, nur in der Senke stand der Nebel. Am Abend waren wir dann im Hofer Krematorium für die Identifizierung der Leichen zuständig. Wie es ist, wenn Angehörige vor ihrem Partner, vor Vater oder Mutter stehen, das vergisst man nie.
Am nächsten Tag, einem Samstag, hatte ich Geburtstag. Weil die Identifizierung bis tief in die Nacht dauerte, haben wir aus der Dienststelle eine Flasche Sekt geholt und in der Nacht unter Tränen ein Glas getrunken. Da ging es nicht mehr um meinen Geburtstag. Wir wollten einfach nur den Schock dieser Katastrophe mildern.“

Lothar Weller, damaliger Brandfahnder bei der Kripo Hof. Er war für die Identifizierung der Leichen zuständig.