Lago Agrio/Cuyabeno - Rosa Delfine - ja, es gibt sie wirklich. Ich habe sie hautnah - naja, etwa sieben Meter weit weg - gesehen. Wenngleich sämtliche Versuche, das kurze Intermezzo mit dieser außergewöhnlichen Spezies fotografisch festzuhalten, scheitern. Lieber genieße ich das Spektakel in der Lagune mitten im Amazonas-Regenwald ganz persönlich. Das Naturreservat Cuyabeno in Ecuador heißt so, obwohl der mächtige Fluss Amazonas in Brasiliens schwül-heißem Herz rund um Manaus 1600 Kilometer weit weg ist und es fünf Tage mit dem Motorboot dauern würde, um dort hinzukommen. Vier Tage lang verschlägt es mich in den tiefen Dschungel Ecuadors, beinahe fern jeglicher Zivilisation. Kein Netz, keine Bequemlichkeiten, dafür ein Dach aus Palmblättern über dem Kopf, das ich mit einer stattlichen Anzahl ekliger Kakerlaken teile, die in meinem Kosmetikbeutel Party machen, während ich unter der Dusche - natürlich Kaltwasser - stehe. Blind in die Kosmetiktasche greifen macht man da nur einmal. Im Dschungel lautet die Devise: Sämtliche Taschen immer dicht verschlossen halten.

Erdölförderung zerstört Landschaften im Amazonasbecken

Denn auch jede Menge anderes Getier tummelt sich hier 30 Flugminuten, über zwei Busstunden und weitere knapp zwei Kanu-Stunden - mit Motor - fern von Quito in dem 665.800 Hektar umfassenden Schutzgebiet, das nördlich an Kolumbien und östlich an Peru grenzt. Es wurde 1979 mit dem Zweck ausgewiesen, Flora und Fauna des Gebietes zu erhalten und es als eine Art Reservat für die hier lebenden indigenen Völker der Siona und Secoya bereitzustellen. Zugänglich ist das Reservat über Lago Agrio, wo ich gelandet bin, durch zerstörte Dschungelgebiete nach Cuyabeno. Auf unserer Bus-Route zum Ablegepunkt der Kanus ziehen sich entlang der primitiven Holzhütten endlos die schon angerosteten Pipelines, über die Erdöl gefördert wurde und zum Teil noch wird. Natur, Mensch und Tier, die durch diesen derben Einschnitt gefährdet sind oder auch mit den Krebs auslösenden Hinterlassenschaften nach der Ausbeutung durch mächtige Konzerne im Stich gelassen wurden, haben - wie so oft - das Nachsehen.

Lago Agrio, auch unter dem Namen Nueva Loja bekannt, ist die größte Stadt im ecuadorianischen Amazonasbecken. Die Stadt wurde 1970 als Stützpunkt für die neu erschlossenen Ölfelder von Texaco gegründet. 1972 begann die reguläre Ölförderung. In dieser Zeit wurden von der Regierung vor allem Bewohner der südlichen Andenregion Ecuadors, insbesondere der Provinz Loja, in der Dürre herrschte, bei ihrer Übersiedlung nach Lago Agrio unterstützt. Aus der Ansiedlung der Erdölarbeiter und der übrigen Siedler entstand die Stadt Nueva Loja.

Durch die Erdölförderung und die Besiedlung hat der ursprünglich die Gegend überwuchernde tropische Regenwald stark gelitten oder wurde teils komplett vernichtet. Die Umweltschäden sind extrem, die Bodenqualität zum Teil katastrophal. Die vor der Erdölförderung und Ansiedlung in der Region lebenden indigenen Gemeinschaften der Cofán haben sich in entlegenere Regionen zurückgezogen.

Unbeschwerte Tage in Gummistiefeln

Dort, wo ich später lande, scheint die Natur noch weitgehend in Ordnung. Das bestätigen zumindest zwei Biologinnen, die für ein paar Tage in der Samona-Lodge, in der ich "residiere", absteigen, um in erster Linie die Wasserqualität näher unter die Lupe zu nehmen. Hier werden die Menschen angeblich bis zu hundert Jahre alt, wenn sie im Einklang mit der Natur leben und nicht irgendwelche geldgierigen Geier aus der neuen Welt daherkommen, um alles auf ewig zu zerstören, nur um sich die Taschen voll und voller zu stopfen. Während ich mir den Luxus des nur halbstündigen Fluges nach Lago Agrio leiste, kommt Danielle aus Quito mit dem Bus an. Die 23-jährige Australierin, mit der ich ein paar interessante und unbeschwerte Tage verbringe, ist indes zehn Stunden unterwegs, zumal der Bus unendlich viele Berge überwinden muss, um sich in den Dschungel vorzuarbeiten.

Wieder einmal regnet es ohne Ende - es ist tropischer Regen -, doch wir werden gleich von Anfang an mit gummierten Regenponchos und Gummistiefeln ausstaffiert. Wie sinnvoll das ist, wird sich bald herausstellen. Es wird kein Tag vergehen, an dem wir in der momentan herrschenden Regenzeit nicht dankbar hineinschlüpfen werden. Denn ansonsten sähen unsere Schuhe ähnlich versifft aus wie am Schluss meine komplette Kleidung, die bei der hohen Luftfeuchtigkeit niemals trocken wird. Die Menschen, die hier leben und in den insgesamt elf Lodges arbeiten, die ganz versteckt im Dschungel entlang der Flüsse Cuyabeno und Aguarico liegen, schaffen ihre Wäsche stets nach Cuyabeno zum Waschen und Trocknen, wie unser Guide Clyde erzählt.

Affen auf Speisezettel der Naturvölker

Gleich auf dem Weg zur Lodge entdecken wir Kapuzineräffchen - sie werden von den Einheimischen nach wie vor mit Giftpfeilen geschossen, um verzehrt zu werden -, eine weitere Gruppe größerer Affen (keine Ahnung, welche es sind) und dann mein erstes Highlight: Ein Königsgeier, der über unser motorbetriebenes Kanu hinwegfliegt. Diesen unglaublich schönen Vogel habe ich vor etlichen Wochen erstmals im Zoo des kolumbianischen Cali gesehen. Und jetzt in Freiheit. Da hält man schon mal eben die Luft an. Neben unserem Boot gaukeln riesige Schmetterlinge in kräftigem Azul.

Dass wir gleich am ersten Abend, als wir vor Einbruch der Dunkelheit mit dem Boot Richtung Lagune fahren, mit einer grandiosen Überraschung rechnen können, hätte von unserem Mädels-Quartett - zwei Schwestern aus Ecuador sind mit von der Partie - keine erwartet. Nicht weit weg von unserem Kanu tauchen doch tatsächlich Amazonas-Delfine auf, zeigen uns ihren hellrosa Körper. "Das passiert nicht allzu oft", versichert Guide Tamara, die uns heute begleitet. Und sie wird recht behalten. Es ist das einzige Mal in den vier Tagen, dass wir diese außergewöhnliche Spezies sehen. Rosa Delfine werden zwei bis drei Meter lang, ihr Kopf ist rundlich, die lange Schnauze deutlich davon abgesetzt. Der Amazonas-Delfin hält sich bevorzugt in den sumpfigen, stehenden Nebenarmen auf. Hier braucht er seinen verkümmerten Gesichtssinn nicht, sondern verlässt sich ganz auf Echo-Ortung bei der Suche nach seiner Beute, die vorwiegend aus kleinen Fischen besteht. Amazonas-Delfine sind allerdings weniger aktiv als ihre ozeanischen silbergrauen Artgenossen, weshalb man auf ausgelassene Sprünge vergeblich wartet.

Lästlinge im Schlafgemach

Auf dem Rückweg zur Lodge entdecken wir im Schein der Taschenlampe - eines der wichtigsten Instrumente auf Reisen - die glühenden Augen eines Kaimans. Dabei haben wir einen hautnah in unserer Bleibe, der unter den Hütten, die auf Stelzen über dem sumpfigen Morast thronen, haust. Auch seine Augen glühen, vor allem, wenn es Abfälle aus der Küche gibt. Über unseren Köpfen in der Speise-Hütte hat es sich eine Vogelspinne bequem gemacht. "Das ist ein Baby", signalisiert die Biologin vom Nachbartisch. Fein, aber wie groß sind dann die ausgewachsenen? Ich werde mein Mosquitonetz äußerst fest zuzurren, nehme ich mir vor. Sicher ist sicher, auch wenn die Tierchen harmlos sind. Mir graut da mehr vor den Kakerlaken, die in der Lodge auch fliegend unterwegs sind und sich als Landeplatz gern mal Kopf und Gesicht aussuchen. Wie auch immer es irgendwelche andere Lästlinge geschafft haben - ich schlafe wieder in meinem seidenen Ganzkörper-Kondom (meinem Schlafsack-Inlett) -, an mich heran zu kommen, ist mir ein Rätsel. Auf jeden Fall weist mein Körper schon einige Bisse oder Stiche auf, die auf nächtliche Begleiter wie Bettwanzen oder dergleichen schließen lassen. Naja, ich hab' mit der Tour in den Dschungel ja auch keine Luxusreise gebucht.

Zwischen acht und 18 Kinder sind "normal"

Das ecuadorianische Amazonasgebiet ist heiß, feucht und regnerisch. Im tropischen Regenwald existiert eine artenreiche Vegetation mit Palmen, Bromelien, Ceibos, Helikonien, wilden Rosen und Orchideen. Viele werden von den einheimischen Indianern medizinisch genutzt, wie uns Aurora bei einer Expedition durch den Dschungel zeigt, wo wir bis zum Rande der Gummistiefel im Matsch versinken. Aurora ist eine vom ganz alten Schlag. Wie alt, das weiß sie selbst nicht. "Vielleicht um die 80", meint Clyde, unser Guide. Aber genau wisse das keiner. "Man wird halt geboren, wird verheiratet, kriegt Kinder." Und derer unglaublich viele. "Zwischen acht und 18 ist normal", sagt Clyde. Allein der Gedanke jagt uns allen - zu Danielle und mir gesellt sich heute ein kanadisch-amerikanisches Pärchen - einen kräftigen Schauer über den Rücken. Aurora hat 14 Kinder. Na, das geht ja gerade noch, grinsen wir. Die jungen Menschen, die heute im Dschungel aufwachsen, sind laut Clyde allerdings etwas gebildeter, denken mehr über Verhütung nach und praktizieren diese wohl auch. Der 31-Jährige selbst ist einer jener gut ausgebildeten Ausnahmen, der unter anderem in Frankreich studiert hat und trotz des "biblischen" Alters noch nicht verheiratet ist. In der Regel kommen die Mädchen mit 13 oder 14 Jahren unter die Haube, bestimmt vom Vater, nicht von der Liebe. Welch schrecklicher Gedanke! Die Jungs sind geringfügig älter, wenn sie zu Familienoberhäuptern mutieren.

Allerdings gibt es schon gewaltige Unterschiede in diesem so unglaublich vielfältigen Ecuador. Während die Menschen in den Bergen - zumindest was die Kultur des Verheiratetwerdens anbelangt - ein bisschen ähnlich ticken, sieht es in den Großstädten Quito und Guyaquil völlig anders aus. Bildung zählt sehr viel, die Menschen wollen die Welt entdecken, reisen, sich etwas leisten können. Und natürlich selbst bestimmen, wen sie irgendwann heiraten - und zwar aus Liebe.

Sternfrucht monströsen Ausmaßes

Der Sound des Dschungels hält sich nachts in Grenzen. Hin und wieder dröhnt das donnernde Gehabe eines männlichen Affen an mein Ohr, und natürlich der ewige Gesang der Zirkaden. Noch immer gibt es kulinarische Überraschungen für mich, diesmal in Form eines Saftes, den ich eigentlich nicht vom Geschmack her identifizieren kann. Clyde klärt uns auf, dies sei ein Saft aus der Karambola, also der Sternfrucht, die es bei uns in deutschen Supermärkten ja seit etlichen Jahren gibt. Nicht allerdings in dieser Größenordnung, wie ich sie im Dschungel erstmals erspähe. Die Frucht ist locker um die 30 Zentimeter groß. Zum Beweis muss Leo mit seinen 26 Zentimetern daneben posieren. Schier unfassbar, was die Natur alles hergibt.

Rauchen im Dschungel verboten

Bei unserer Tour mit Aurora weist Clyde gleich den einzigen männlichen Begleiter, Gary aus Kanada, in die Schranken. "Keine Zigaretten im Dschungel", betont er. Ebenso dürfen wir das Mosquitospray nur am Ufer, als wir unser Kanu verlassen, auftragen. Nichts soll in diese für sich abgeschlossene Welt vordringen, um sie weiterhin zu bewahren. Was sicherlich nicht leicht ist angesichts der vielen Touristen, die sich mittlerweile hierher verirren, um das Ursprüngliche zu erleben. Nicht jeder benimmt sich der Natur gegenüber auch rücksichtsvoll, wie ich leider immer wieder feststelle. Bisher wurden hier im Amazonas-Regenwald um die 60 verschiedene Orchideenarten und 240 verschiedene Baumsorten erfasst, daneben über 560 Vogel- und 350 Fischarten. Es ist die Heimat von Hoatzins - die Stinkvögel lassen sich täglich in Samona blicken -, Papageien und Königsfischern, Affen und Ameisenbären, Kaimanen, Piranhas, Schildkröten, Käfern und giftigen Pfeilgiftfröschen. Süßwasser-Delfine, Gürteltiere und Anakondas - da erleben wir unter unserer Hütte eine kleinere und eine größere entlang des Flusslaufs - werden ebenfalls gelegentlich gesichtet. Wir entdecken zumindest eine ganze Menge, klatschen Danielle und ich uns freudestrahlend ab.

Im Paddelboot durch den Tropenregen

Nach der über zweistündigen Dschungeltour sind wir schweißdurchtränkt und von oben bis unten voll Matsch. Wie gut, dass es ausgerechnet jetzt zu regnen beginnt, und zwar nicht zu knapp, wo wir auf ein bereitgestelltes Kanu steigen, um nun mit unserer Hände Arbeit knapp eineinhalb Stunden zurück zur Lodge zu paddeln. Ein sportliches, aber auch äußerst vergnügliches Abenteuer. Obendrein eines, bei dem wir den Tieren noch näher kommen, weil sie nicht aufgeschreckt werden durch Motorengeräusche. Ob der Schwarm bunter Tukane oder die Affenbanden, die über unseren Köpfen in den Bäumen Blödsinn treiben und sich gegenseitig jagen - ein herrliches Schauspiel im prasselnden Tropenregen. Dessen trommelnder Sound sorgt auch dafür, dass wir nach der morgendlichen Exkursion wunderbar in den Hängematten über dem Wasser schlafen können, ehe es spätnachmittags wieder los geht, um Neues zu entdecken.

Beim Stamme der Siona

Eine private Veranstaltung erleben Danielle und ich am letzten Tag, als wir das Dorf San Victoriano im Dschungel besuchen, in dem 45 Menschen vom Stamme der Siona leben. Denn bei den meisten Touren trottet gut ein Dutzend Touristen - vornehmlich Backpacker - dem Guide hinterdrein. In unserer Lodge, wo bis zu 50 Gäste Platz finden, sind wir gerademal zu viert. Und das Pärchen unternimmt heute eine Paddel-Tour, weshalb Dani und ich allein losziehen - mit Guide und Bootsmann. Welch ein Luxus. Da bleibt viel Raum, die Menschen, die hier leben, mit Fragen zu löchern. Lange verharren wir auf dem Weg zu den Siona vor einem über dem trägen Fluss hängenden Wespennest, in dem Clyde zufolge um die tausend Tiere leben. Das Besondere an dieser eher winzigen, aber doch sehr bissigen Spezies, ist deren Gemeinsinn. Sobald wir zu dritt losschreien: "March" - Englisch für Marsch! - setzt sich eine unglaubliche Artillerie in Bewegung. Im Innern des Wespennests scheinen Tausende von Tierchen im Gleichschritt zu marschieren. In dieser wunderbaren Stille ein fantastisches Erlebnis.

Ins Dorf nehmen wir auch den Koch der Nachbar-Lodge mit, die momentan verwaist ist. Edison feiert heute seinen 22. Geburtstag, was wohl etwas ganz Besonderes ist in Ecuador, quasi der endgültige Schritt in die Welt der Erwachsenen. In San Victoriano leben die Menschen nicht schon immer. "Früher haben die Leute im Dschungel als Nomaden gelebt, haben ihr Domizil nach dem Jagen und Fischen ausgerichtet und sind alle drei bis vier Monate weitergezogen", erzählt Clyde. Jetzt können die Ureinwohner ein wenig vom Tourismus leben, davon, dass Leute wie Danielle und ich wissbegierig an Land gehen, um gegen ein kleines Entgelt ein wenig an der Oberfläche ihrer Privatsphäre zu kratzen. Edison und den Kanu-Fahrer setzen wir in der "Dorfkneipe" ab. Das ist eine Hütte mit Zaunlatten, die vor dem schwarzen Puma und anderen großen Tieren schützen soll. Außer ein paar Bänken und einer Hängematte gibt es hier weiter nichts. Doch: Endlich eisgekühltes Bier. Denn im Gegensatz zu unserer Lodge gibt es hier einen Kühlschrank, angetrieben vom Generator, der 24 Stunden lang für Elektrizität sorgen kann.

Allerdings gibt es auch noch Völker mitten im tiefen Dschungel Ecuadors, die leben, wie sie zur Welt gekommen sind: Nackt. "Erst vor drei Jahren wurden Kannibalen in unserem Land entdeckt", sagt Clyde. Ich kann mich vage erinnern, etwas davon gelesen zu haben. Die Naturvölker, so betont er, hätten ein Mitspracherecht, wenn es um ihr Land - eben den Dschungel - geht. Der Präsident dürfe sich nicht über deren Köpfe hinwegsetzen. Das war wohl einmal anders, als die Ölbarone über den Dschungel hergefallen sind. Wie jüngst einem Artikel in der Süddeutschen Zeitung zu entnehmen war, treiben allerdings chinesische Öl-Geier mittlerweile auch ihr Unwesen in Ecuadors Dschungel. Das würde ich dem Präsidenten allerdings persönlich übel nehmen, zumal ein jeder weiß, welch Schaden hier angerichet wird auf ewige Zeiten und wie wichtig der Dschungel für das ökologische Gleichgewicht ist.

Jagd mit dem Blasrohr

Zurück nach San Victoriano, wo die Welt noch in Ordnung scheint - mal abgesehen von Millionen von Sandflöhen und Mosquitos, weshalb ich lieber langärmlig im eigenen Saft gare, ehe ich komplett zerbissen werde wie gestern eine der Biologinnen. Wie früher noch, bestellen die Frauen hier die Felder, die Kinder auf dem Buckel oder am Rockzipfel hängend. Im Dorf scheint die Neuzeit noch nicht eingezogen, wirken die Mütter doch geradewegs, als wären sie eben in die Pubertät gekommen. Die Männer gehen jagen - mit dem Blasrohr. Fische oder Affen und Vögel, was ihnen gelegen kommt. "Durch das Pfeilgift werden die Tiere binnen zwei Minuten komplett bewegungsunfähig, dann schlagen die Jäger schnell zu, um die Beute zu töten", erklärt Clyde. Noch heute isst die gesamte Dorfgemeinschaft zusammen, werden die Speisen gemeinsam zubereitet.

Dschungel-Pizza aus Yucca

Wie das funktioniert, lernen Dani und ich beim Herstellen der Dschungel-Pizza. Margarita, die Siona-Frau, nimmt uns mit ans Flussufer, wo wir zunächst einmal Yucca ernten. Dass die dicken Wurzeln unter diesem zarten Stämmchen -gerade mal ein bisschen stärker als mein Daumen - wuchern, hätte ich im Traum nicht gedacht. Vier Monate dauert es, bis die Yucca reif ist, sie zu ernten. Um eine neue Pflanze nachkommen zu lassen, nimmt Margarita einfach ein Stückchen des Stammes, steckt es schräg in die Erde - das war's. In vier Monaten sind die Wurzeln erneut erntefähig. Ganz einfach lässt sich die doppelschichtige Schutzhaut, die alle Vitamine und Mineralien bewahrt, abziehen. Dann werden die Wurzeln gewaschen - und es geht ans Werk.

Munter schaben wir das Gemüse mit der Reibe in ein hölzernes Mini-Kanu. In einer Form aus Palmblättern und mit viel Muskelkraft entsaftet Margarita die Wurzelpampe. Völlig trocken, wird das Ganze über einem Sieb zu feinem Mehl zerrieben. Dann geht es dran, Casave zu backen, das Yucca-Brot. Ähnlich einem Crepes, schichtet die Siona-Frau das Mehl hauchfein auf die Metallplatte über dem offenen Feuer. Kurz wenden, fertig ist die Dschungel-Pizza, quasi das tägliche Brot der Naturvölker im Amazonas-Regenwald. Es schmeckt nicht schlecht, mit ein bisschen Käse und Gemüse sicherlich eine ausbaufähige Speise, die zu mehr taugt als nur zur Sättigung. "Zum Bier", weiß Clyde, sei das auch keine schlechte Geschichte.

Ab in die Fluten bei Sonnenuntergang

Dani und ich profitieren gleich doppelt von dieser Aktion, zumal uns der Guide aus der Yucca-Pampe, die im Wasser schwimmt, noch eine Gesichtsmaske auflegt. Wenn's denn hilft, bin ich mir für nichts zu schade, erkläre ich ihm augenzwinkernd - und wir folgen mit der Maske in die Dorfkneipe, wo wir mit Hallo und frischem Bier empfangen werden. Ein kleines Glas macht permanent die Runde, Geburtstagskind Edison schenkt ein und freut sich diebisch, zwei Touristinnen an seinem Ehrentag um sich zu haben. Wir genießen die Runde ebenfalls und haben viel Spaß.

Ein wenig angetrunken - der Bootsfahrer nicht minder - geht es fröhlich zurück in die Lodge. Dani darf das Steuer übernehmen, was zuweilen irgendwo in den Ästen endet, die überall weit und tief in den Fluss ragen. Der Ausflug endet mit einem Tiefschlaf in der Hängematte unserer Lodge, ehe wir bei herrlichem Sonnenschein - endlich einmal - in die Lagune aufbrechen. Dort springen wir wieder zu viert - mit Lisa und Gary aus Florida und Kanada - in die Fluten, wo wir zwei Tage zuvor die rosa Delfine gesichtet haben. Im Amazonas-Dschungel schwimmen fühlt sich völlig verrückt an, noch dazu bei einem traumhaft romantischen Sonnenuntergang. Das sind die Momente, wo ich wieder einmal kräftig schlucken muss und mir die Tränen übers Gesicht laufen. Chap würde das Herz aufgehen, könnte er diese wunderschönen Augenblicke mit erleben.

Dschungel-Bier zum Abschied

Der fröhliche Tag soll in eine ebenso fröhliche Nacht münden. Nach dem Abendessen springen wir ins Kanu, um Edison in seiner vereinsamten Magic River-Lodge, in der es spuken soll mit nächtlichen Besuchen von Babys auf Highheels (wie absurd!), einen Besuch abzustatten. Er hat nicht mehr mit uns gerechnet und frustriert sein Bier fast allein ausgetrunken. Umso größer ist seine Freude jetzt, packt er doch gleich mal die Gitarre aus, um uns mit ein paar ungelenken Handgriffen ein Liedchen zu trällern. Ich habe nur wenige Mitbringsel in meinem begrenzten Reisegepäck, doch irgendwo im Untergrund finde ich einen Schlüsselanhänger der deutschen Bundespolizei. Edi steckt ihn sich stolz um den Finger und lässt ihn die halbe Nacht nicht mehr los. Clyde bereitet uns eine leckere Michelada - das Bier der Dschungel-Bewohner - zu: Bier, Limettensaft, Tabasco und Salz. Eine coole Variante, die nach mehr schmeckt.

Als das Bier zur Neige geht, düsen wir im Höllentempo über eine halbe Stunde mit dem Kanu durch die Nacht. Unter einem traumhaft leuchtenden Sternenhimmel bei Halbmond. Wieder ins Dorf der Siona, wo wir den Chef des Kühlschranks aus den Federn hauen. Mir ist das Ganze wirklich peinlich, aber es scheint für unsere Freunde aus dem Dschungel eine so willkommene Abwechslung zu sein, dass es jeder genial findet. Sogar der Kühlschrank-Chef, der neben uns sitzt, während wir erneut eine halbe Kiste Bier leeren. In einer Nachbar-Hütte - wir Touristen haben natürlich unser Geld zusammengeworfen - erstehen Clyde und seine Freunde weiteren Nachschub. Dann geht es im rasanten Tempo zurück.

Die meisten sind in Kicher-Laune, zumal auch noch ein Joint die Runde macht. Aus dieser Nummer bin ich allerdings seit Jahren raus, freue mich aber drüber, welchen Spaß die anderen haben. Irgendwann morgens um drei Uhr - es war das erste Mal, dass ich derart über die Stränge geschlagen habe auf meiner Reise - ist auch der Absacker in unserer Lodge vorbei. Die Kakerlaken übersehe ich diesmal großzügig, als ich in meine Hütte torkle. Und ich bin froh, dass es morgens um sechs Uhr regnet. Ansonsten wären wir zu einer Vogel-Beobachtungs-Tour aufgebrochen. Auch wenn es ein wenig leichtsinnig gewesen sein mag, ohne Licht wild und betrunken durch den nächtlichen Dschungel zu brausen, so war es doch ein unvergessliches Abenteuer.

Nicht nur dieses wird unvergesslich bleiben. Die vier Wochen in Ecuador haben mir viele emotionale Momente geschenkt, die mich dem Leben wieder ein Stück näher gebracht haben. Dafür bin ich unendlich dankbar.