Heinrich von Gagern: Wie ein Bayreuther eine frühe Sternstunde der Demokratie ermöglichte

Von Michael Weiser
 Foto: red

Am 18. Mai 1848 trat erstmals ein frei gewähltes deutsches Parlament zusammen – um ein Jahr später schon aufgelöst zu werden. Im Mittelpunkt stand ein gebürtiger Bayreuther: Heinrich von Gagern. Sein Aufstieg und Scheitern dokumentieren, wie lang und steinig der Weg zur deutschen Demokratie war.

 
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Am Anfang war Napoleon, am Ende war Napoleon. Man kann sagen, das Leben des Politikers Heinrich von Gagern sei eingerahmt gewesen von Napoleon I. und Napoleon III.: dem einen, der Europa beherrschte, und dem anderen, der sich in Sedan deutschen Truppen ergeben und Weg zur Reichseinigung freigeben musste. Fünf dramatische Jahrzehnte lagen dazwischen, in denen Deutschlands Schicksal immer wieder die Richtung änderte. Mittendrin Heinrich von Gagern, Präsident des Frankfurter Parlaments von 1848, später Ministerpräsident der provisorischen Reichsregierung.

Wilhelm Heinrich August Freiherr von Gagern wurde am 20. August 1799 in Bayreuth geboren. Noch nicht mal 16 Jahre alt, kämpfte er 1815 bei Waterloo. Nach Napoleons Niederlage gehörte er zu den Kriegsheimkehrern, die nun die Zeit für die Verwirklichung des nächsten Traums gekommen sahen: die Einheit Deutschlands. Doch daraus wurde nichts. Die Fürsten Europas kehrten zum alten Regime zurück, das Leben erstarrte in überkommenen Strukturen. Doch es gärte weiter, allenthalben, sogar in der Schweiz, ohnehin in Frankreich und im deutschen Staatenbund. Gründe für Aufstände gab es viele: die Polen kämpften um ein Vaterland, die schlesischen Weber um ihr Überleben, die Münchner um den Bierpreis. Schließlich vertrieben die Franzosen ihren Bürgerkönig, und von Paris breitete sich die Empörung aus. Innerhalb weniger Tage brannte es überall in deutschen Landen. Die Revolution schockte die Regierenden, in Berlin wurde der preußische König gezwungen, sich vor den Toten zu verbeugen, die das Einschreiten seines Militärs gefordert hatte. Im März 1848 war das, überall in Europa schien sich wiederholen zu wollen, was seit 1789 erst Frankreich, dann die halbe Welt in Flammen gesetzt hatte.

Dabei waren die deutschen Forderungen – nach heutigen Maßstäben – nur recht und billig: Volksbewaffnung, Schwurgerichte, ein deutsches Parlament, Menschen- und Bürgerrechte, den deutschen Nationalstaat und die Verfassung, dazu Pressefreiheit.

Heinrich von Gagern besaß zu dieser Zeit einigen Einfluss als Publizist. Seine Karriere im hessischen Staatsdienst war jäh unterbrochen worden – wegen seiner politischen Einstellung. Denn Gagern war ein Liberaler, einer jener Besitzenden, die gegen Polizeistaat und Kirchenmacht kämpften, um individuelle Freiheit, Gleichheit vorm Gesetz und Sicherheit des Eigentums. Und vor allem: um Deutschlands Einheit.

Mit den Unruhen von 1848 kehrte von Gagern auf die große Bühne zurück, als Vorbereiter der Nationalversammlung. Als dieses Parlament am 18. Mai 1848 in die Frankfurter Paulskirche einzog, war Gagern nicht nur einer von 330 Abgeordneten – er glänzte durch Haltung, Rede und Autorität. Wie einer seiner Nachfolger sagte, war es, als „wenn ein des Fahrens Kundiger am Boden schleifende Zügel ergriff“. Gagern wurde wie selbstverständlich zum Präsidenten gewählt. Sein Ziel: Deutschland sollte „repräsentative Monarchie“ werden. Doch wie dem Ganzen Gestalt geben? Beispiele gab es nicht. Gagern riet zum „kühnen Griff“: die Wahl eines „Reichsverwesers“, als provisorisches Regierungsoberhaupt eines Staates, der erst entstehen sollte. Die Wahl fiel auf den Habsburger Erzherzog Johann. Mit einer Bürgerlichen verheiratet, bekannt für seine liberalen Sympathien, schien er der richtige Kandidat zu sein. „Eine überschlaue Wahl“, moniert der Historiker Golo Mann. Denn: Wie viel Österreich konnte Deutschland vertragen? Wie sollte dieses Vielvölkerreich in einem deutschen Nationalstaat aufgehen?

Die nationale Sehnsucht befeuerte das Parlament und nahm ihm gleichzeitig Spielraum. Etwa im Krieg um Schleswig. Als Preußen auf internationalen Druck – und ohne das Parlament zu fragen – in einen Waffenstillstand mit Dänemark einwilligte, brachen in Deutschland erneut Unruhen aus.

Mittlerweile hatten sich die alten Gewalten aus der Schockstarre gelöst, Preußens und Österreichs Regimenter schlugen den Aufruhr nieder. Das Parlament verlor an Boden, es wurde nicht gehört, nicht im Land, nicht im Ausland, dem ein vereintes Deutschland nicht geheuer war. Immerhin einigte man sich auf eine Verfassung – die dann aber nur wenige Staaten akzeptierten. Die Verfassung sah einen Erbkönig vor, gewählt, aber nicht verantwortlich, ein seltsamer Kompromiss.

Der Preußenkönig Friedrich Wilhelm IV. wurde im März 1849 gewählt, lehnte die angetragene Krone aber höflich ab – und tat später seinen Abscheu kund: diese Parlamentskrone aus „Dreck und Letten“, dieses „Hundehalsband, mit dem man mich an die Revolution von 1848 ketten will“.

Gagern war gescheitert. Den Radikalen war er ohnehin zu monarchistisch, den Monarchen zu revolutionär gewesen. Das Parlament war bald am Ende. Empörte Bürger türmten weiter Barrikaden auf. Einer der letzten Brandherde war im Mai 1949 Dresden. Dort ließ sich ein gewisser Richard Wagner die Kugeln um die Ohren pfeifen. Das aber ist eine andere Geschichte.

Ausgerechnet jener Otto von Bismack, der von Gagern als „Phrasengießkanne“ verspottet hatte, schuf zwischen 1864 und 1871 das neue Deutschland, nicht in Freiheit, aber in Einheit. Es war nicht das Deutschland, für das die Revolutionäre gekämpft hatten. Doch Gagern verkündete, dass er, obwohl vieles anders gekommen sei als gewünscht, „ganz versöhnt“ sei: „Ich begrüße das neue Deutsche Reich mit patriotischer Freude und Anhänglichkeit.“ 1880 starb von Gagern, nahezu vergessen. Und noch 65 Jahre sollte es dauern, bis Deutschland dauerhaft Demokratie werden durfte, nach den Grundsätzen der Paulskirche.

Foto: Nationalversammlung Frankfurt

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