"Man war immer so gefangen und hat sich gefragt: Schaffen wir das auch? Man hat erst im Turnierverlauf gemerkt, was das für einen Ruck gibt für Deutschland", sagte der heutige Leiter der Nachwuchsakademie des Premier-League-Clubs FC Arsenal in London und ZDF-Experte bei der EM. Vorher habe man sich nicht ausmalen mögen, wozu das Land imstande sei.
Lahms Wunsch: Zeitenwende für Fußball und Gesellschaft
Genau so einen Effekt wünscht sich EM-Turnierdirektor Philipp Lahm (40) auch in diesem Sommer. In einem Gastbeitrag für den "Kicker" schrieb der erste deutsche Torschütze bei der WM 2006 von einer "Zeitenwende im deutschen Fußball. Und in der Gesellschaft".
Mit Blick auf das Eröffnungsspiel am 14. Juni solle die EM als "Wendepunkt" begriffen werden: "für Europa, für die Gesellschaft, für uns alle". Dieses Turnier sei ein Aufruf für Solidarität und Fürsorge sowie für ein Wiedererstarken des europäischen Gedankens, "um künftig besser den Krisen und Konflikten trotzen zu können".
Alles andere als ein bescheidener Anspruch für ein Sportereignis mitten in krisenhaften Zeiten. Dabei scheint nur wenig PR-Unterstützung aus der Berliner Politik für die EM zu kommen. Und auch sonst ist von EM-Stimmung lange nur wenig im Land zu spüren. "Die EM findet noch nicht richtig statt", sagte 1996-Europameister Bierhoff. "Aber ich glaube, wenn das Turnier einmal beginnt, wenn man gute Spiele sieht, wenn die Siege kommen, dann wird auch die Begeisterung der Menschen da sein."
Kein zweites Sommermärchen?
"Ein bisschen Entlastung durch ein Fußball-Großevent wird dringend gebraucht", sagte Sozialpsychologin Dagmar Schediwy. Und doch hofft die Berliner Wissenschaftlerin auf kein zweites Sommermärchen.
Schediwy hatte bei der WM 2006, der EM 2008 und der WM 2010 Deutschlandfans auf Fanmeilen befragt und 2012 ihre Ergebnisse im Buch "Ganz entspannt in Schwarz-Rot-Gold?" veröffentlicht. Ihr Fazit zur WM 2006: "Die Fußball-WM 2006 hatte den Charakter eines nationalen Coming-out."
Ihrer Meinung nach "hat die WM 2006 zu einer Normalisierung nationalistischer und geschichtsrevisionistischer Einstellungen geführt", sagte sie der dpa. "Das hat letztlich auch zum Aufstieg rechter Parteien und Bewegungen geführt, zumindest den Weg geebnet."
Anders als bei der WM 2006 würden heute nicht nur Fußball-Fans mit schwarz-rot-goldenen Fahnen durch die Straßen laufen, sondern auch rechte Bewegungen und Parteien. "Da sind bei der EM 2024 vielleicht anders als 2006 Appelle, sein Nationalgefühl unverkrampft auszudrücken, nicht mehr so angebracht."
Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) habe da "gute Vorarbeit geleistet mit diesen rosa und lilafarbenen Trikots", meinte Schediwy. "Mit diesen Trikots kann sich ein richtiger Deutsch-Nationaler wohl nicht identifizieren."