Für immer

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Sein Aufenthalt sollte befristet sein, doch nach einem Besuch blieb Naefken für den Rest seines Lebens in Himmelkron. Foto: Eschenbacher/privat Foto: red

Den Tag der Wiedervereinigung haben sie für uns gemacht, sagt Hans-Günther Naefken. Für ihn, den in Hamburg Geborenen, der während des Zweiten Weltkrieges über die „Kinderlandverschickung" nach Himmelkron kam. Und für seine Frau Anna, die als Vertriebene über Thüringen und Berlin wie er zufällig in Himmelkron landete. Der 3. Oktober ist ihr Hochzeitstag.

 
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Um die Kinder und Mütter vor den Luftangriffen auf deutsche Großstädte zu schützen, evakuierte das NS-Regime sie in ländlichere Regionen. 2,5 Millionen Kinder sollen nach Schätzungen, handfeste Zahlen gibt es nicht, im Zweiten Weltkrieg weit weg von ihren Eltern aufgewachsen sein. Sie kamen in Lagern unter oder wuchsen in Pflegefamilien auf. So wie Hans-Günther Naefken, dessen Vater ihn und seine Schwester Lieselotte für das Programm anmeldete. Die Geschwister waren damals erst drei und vier Jahre alt. Der Berufsfeuerwehrmann in Hamburg erlebte als Helfer die Schicksale der Opfer nach den Bombenangriffen mit. „Das wollte er seinen eigenen Kindern ersparen", sagt der heute 77-jährige Naefken.

Mit dem Zug fahren die Kinder aus dem Hamburger Stadtteil Poppenbüttel los. Jedes mit einem Schild um den Hals, auf dem der eigene Name und der von den Eltern stand. Zunächst sollte es nur bis in die Lüneburger Heide gehen. Doch die Reise wird länger und führt nach Franken, von Kulmbach aus nach Himmelkron. Naefken erinnert sich, am Küchentisch sitzend, dass er damals nicht ganz alleine war: sein grauer Stoffelefant Anton begleitete ihn. Hans-Günther und Lieselotte Naefken kommen zu Pflegeeltern, deren Häuser nebeneinander liegen. Beide Ehepaare, die Bauers und Otto und Margarete Winter, sind kinderlos. Die Geschwister nennen sie Onkel und Tante oder "die Pat'". Im ehemaligen Haus der Winters wohnt der Pflegesohn Hans-Günther nach wie vor.

Und das kam so: Die Geschwister kehren im Herbst 1945 nach Hamburg zurück. "Ein Bauer brachte uns mit seinem Gespann nach Kulmbach zum Bahnhof. Dort wurden wir in einen Güterzug verladen", schildert Günther Naefken die Rückreise. "Am Boden lag Stroh, auf dem wir schliefen. Es war ein Horror." Nach drei Tagen, an denen es nur eine Tasse Milch für jeden gab, erreichen sie Hamburg. Aber keiner holt sie am Bahnsteig ab. Die Mutter war nicht verständigt worden. Der neunjährige Hans-Günther weiß jedoch noch die alte Adresse. Ein Bahn-Beamter bringt die Kinder mit der S-Bahn heim. Das Wohnhaus steht noch. Die Mutter ist am Leben und kümmert sich um zwei jüngere Brüder. Der Vater war als Soldat eingezogen worden und galt als vermisst. "Ein Trümmerhaufen neben dem anderen, die Menschen wohnten in Kellern", erzählt Naefken. Er spricht Hochdeutsch mit fränkischem Einschlag, kein Platt. Anders als früher in den ersten Schultagen in Oberfranken, als er wegen seiner Sprache als "Exot" galt.

Im Jahr 1948 kommen er und seine Schwester in den Ferien erneut zu Besuch nach Himmelkron. Die Mutter in Hamburg hat ihre Wohnung verloren und muss in ein Gartenhäuschen umziehen. Auf dem Land fühlen sich die Kinder gleich wieder wohl - und sie haben genug zu essen. Weil die Währungsunion bevorsteht, entscheiden sich die Pflegeeltern, die Kinder in Himmelkron wieder in die Schule zu schicken. Die Schwester besucht die Handelsschule und findet Arbeit im Milchhof. Hans-Günther Naefken macht eine Lehre bei Stahlbau Galler in Kulmbach, wo er zuletzt Prokurist ist.

"Heimweh hatte ich nie", sagt er, da er sich schnell integriert fühlte. Die leibliche Mutter schrieb und hielt Kontakt. Und ängstlich sei er auch nie gewesen - nur vor Katzen habe er größten Respekt, so der 77-Jährige. Die "Kinderlandverschickung" scheint für ihn nicht traumatisch gewesen zu sein, denn er ist überzeugt: "Unsere Eltern haben das nicht getan, um uns loszuwerden, sondern weil sie uns am Leben halten wollten." Seine Frau ergänzt: "Später hat Mutti gesagt, dass sie das nie mehr machen würde." Denn Poppenbüttel war vom Krieg weitgehend verschont geblieben. Im Alter holten sie Agnes Naefken nach Oberfranken. Sie wurde im gemeinsamen Grab der Familien Naefken und Winter begraben.

Spätestens als Hans-Günther Naefken im Jahr 1961 auf einer Theaterfahrt nach Coburg seine "Anni" kennenlernt, ist er endgültig in Himmelkron angekommen. Lange Jahre, von 1966 bis 2002, war er Gemeinderat und von 1972 bis 1984 Zweiter Bürgermeister. In seinem Haus in der Egerländer Straße wohnt inzwischen  Tochter Gabriele. Das Haus im Schulweg, in dem er aufgewachsen ist, hat ihm seine Pflegemutter überschrieben. Dort lebt der Rentner heute wieder, das Erdgeschoss bewohnt Sohn Werner. "Wir hatten Glück, Glück und nochmals Glück", sagt die 76-jährige Anni. "Das kann man nicht planen." Ihr Weg nach Himmelkron ist fast noch abenteuerlicher als der ihres Ehemanns.  Sie lernte in der damaligen sowejetischen Besatzungszone als eine der wenigen Frauen technische Zeichnerin und war Spitzenturnerin. Nur, weil ein Onkel auf der schiefen Ebene aus einem Zug sprang, wurde der Rest der Familie auf Himmelkron aufmerksam. Doch das ist eine andere Geschichte.

INFO: Der Hamburger Wilhelm Stemm blickt am 15. Januar bei einer Lesung im Grampp-Haus, 19 Uhr, auf seine Kindheit in Himmelkron zurück. Vor 70 Jahren, 1943, kam er dorthin. "Ich habe Rotz und Wasser geheult und meine Pflegemutter gleich mit", sagt er. Nach dem Krieg zog er wieder in den Norden.

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