Früher kam man nicht einfach vorbei – schon gar nicht als Frau
Selbstredend war früher alles deutlich steifer, so Jung: „Wenn man sich verabredete, kündigte man sich an und wollte dann auch Antwort haben. Man kam nicht einfach vorbei. Wenn der Mann einer Dame den Hof machte, dann schrieb er mit Füller eine Einladung und wartete teils Wochen auf eine Antwort.“
Heute klingelt es auch mal während der „Tagesschau“ oder später – noch in den 1990ern übrigens ein Unding – , und vor der Tür steht: eine junge Frau, die einen jungen Mann abholt. Einen Skandal hätte dieses Vorgehen einer jungen Frau im 19. Jahrhundert dargestellt. Es war zudem nicht ungewöhnlich, dass Familien die Töchter verstießen, wenn sie sich vom Falschen küssen ließen.
Heutzutage freut sich hingegen der eine oder die andere über die Existenz schneller, einmaliger sexueller Erlebnisse – und die Möglichkeit, sich jederzeit trennen zu können, ohne den sozialen Stand oder das Dach über dem Kopf zu verlieren.
Allerdings gibt es stattdessen andere Verstöße gegen die Etikette – dass man den anderen, mit dem gerade noch fleißig geturtelt wurde, auf allen Kanälen plötzlich ignoriert, was neuerdings Ghosting heißt. Oder im Internet verunglimpft, sodass es den Tatbestand des Cybermobbings erfüllt. So oder so – schlechtes Benehmen.
„In manchen Kreisen ist schlechtes benehmen das Eintrittsticket“
Gewisse äußere Umstände wie eine Coronakrise sind dem Benimm nicht zuträglich, denn für einen guten Umgang miteinander braucht es Wohlwollen. Gerade in den sozialen Medien aber herrschen Thesen und ein Ton, bei dem Knigge sich im Grabe umdrehen würde.
„In manchen Kreisen ist schlechtes Benehmen natürlich auch das Eintrittsticket“, meint Gabriela Meyer, Autorin („Modern-Life-Etikette“) und Coach: „Diese Menschen wird man schwer zu guten Manieren überreden können, zumindest dann nicht, wenn sie denken, sie wissen und können schon alles und sind ohnehin im Recht. Es gehört Lernbereitschaft dazu, sich zu reflektieren und weiterzuentwickeln.“
Knigges Lehren sind nämlich viel mehr, als nur zu wissen, dass man „Guten Tag“ statt „Ey Alter“ zur Begrüßung sagt und nicht auf den Bürgersteig rotzt. Benehmen ist Lebenshaltung, Freundlichkeit und Respekt.
Benimm-Trainerin Meyer wünscht sich mehr Taktgefühl und Großzügigkeit: „Andere glänzen lassen und echte Anerkennung schenken erhöht nicht nur unser Gegenüber, sondern auch uns selbst. Das macht sympathisch und menschlich, kann uns oft aber sogar auch unseren eigenen Zielen ein großes Stück näher bringen.“
Früher war, so darf man bilanzieren, womöglich manches besser, aber auch unbequemer. „Damals trugen die Männer immer Jackett, und ohne Hut verließ keine Dame das Haus. Selbst die Zugehfrau kam mit Hut“, erzählt Charlotte Jung. „Langärmelige, hochgeknöpfte Blusen und lange Röcke waren Bedingung: maximal 7 cm über dem Knöchel. War ein Rock kürzer, galt man als Hure.