Der berühmteste Wanderprediger seiner Zeit schlug im Juli 1901 auf den Mainwiesen sein Zelt auf Gustav Nagel auf auf den Mainwiesen

Von Wolfgang Schoberth
Auf den Mainwiesen schlug er sein Zelt auf: der Wanderprediger Gustav Nagel. Foto: red

Das Blättern in alten Zeitungen hat ihren Reiz. Oft stößt man auf Kurioses. Ein Beispiel hierfür ist der Auftritt Gustav Nagels, der skurrilsten Figur der Lebensreformbewegung um die Jahrhundertwende. Der berühmteste Wanderprediger seiner Zeit schlug im Juli 1901 auf den Mainwiesen sein Zelt auf.

 
Schließen

Diesen Artikel teilen

Der 1874 in der der Hansestadt Werben geborene Nagel ist der brave, wohlerzogene Spross einer Gastwirtsfamilie. In Arendsee in der Altmark beginnt er eine kaufmännische Lehre. Wegen eines chronischen Katarrhs und verschiedener Allergien muss er sie jedoch abbrechen. Ein radikaler Schnitt erfolgt. Er bricht mit der bürgerlichen Gesellschaft, baut sich eine Erdhöhle vor der Stadt und widmet sich, beeinflusst von der Lehre Sebastian Kneipps, der Naturheilkunde. Er lebt von Obst- und Gemüsespenden, verzichtet auf Alkohol und Tabak, badet nackt und sucht spirituelle Reinigung.

Wie Jesus

Zu einer Kultfigur in deutschen Landen wird er jedoch durch seine Jesus-Maskerade:  stets barfuß, das weiche Gesicht von lockigem Haar umwallt, zotteliger Bart bis auf die Burst, knappes Leinenhöschen, über die Schultern geworfenes Cape.

Für seine Jünger ist er ein Wunderheiler und Friedensbringer, für die Obrigkeit der „Verrückte von Arendsee“. Als man bei Gericht seine Entmündigung beantragt,verteidigt er sich vor den Richtern barfüßig im Lendenschurz. Trotz aller Anstrengungen können die Stadtväter nicht verhindern, dass Arendsee zur Pilgerstätte für Neugierige und Jünger aus dem ganzen Reich wird.

In der Wandervogel-Bewegung

1901 begibt sich Nagel auf Pilgerschaft, wird zum Pionier der „Wandervogel“-Bewegung. Mit ein paar Gepäckstücken auf seiner Eselskarre zieht er durch quer durch Deutschland. Am 4. Juli 1901 erreicht er Kulmbach. Die beiden lokalen Zeitungen „Kulmbacher Tagblatt“ und „Kulmbacher Nachrichten“ kündigen seinen Auftritt tags zuvor an, nicht ohne süffisant anzumerken, dass der „vernagelte Gustav, wie er allseits genannt wird, von der Coburger Polizei ausgewiesen wurde“.

Der „Naturmensch“ muss Tagesgespräch in der Stadt gewesen sein. Am Tag nach seiner Ankunft erfährt der Leser aus der Zeitung, dass er sein Spitzzelt in den Mittelau-Wiesen links der Straße von Petzmannberg aufgeschlagen hat. Neben seiner Behausung hat er seine Standarte aufgestellt: „ich komme zu euch in friden“, dazwischen ein Stern mit einem eingeschriebenen Kreuz.

Halb Kulmbach rennt zur Veranstaltung

Wie bei ihm üblich, in fonetischer Schreibweise und in konsequenter Kleinschrift – auch hier die Moderne vorwegnehmend.  Das Bürgerschreck-Getue der Zeitungen tut seiner Popularität keinen Abbruch. Im Gegenteil:  Halb Kulmbach rennt auf die Mainwiesen, um den Sonderling zu bestaunen, von ihm handgedruckte Schriften zu erwerben oder Foto-Postkarten, auf denen er sich in Jugendstil-Manier selbst inszeniert. Nach drei Tagen, am 6. Juli, zieht „gustaf nagel“ mit seinem Esel und Hund nach Bayreuth weiter.

Das Leben des friedensbewegten Künstlerpropheten nimmt einen tragischen Verlauf: Als er nach 1933 gegen die Judenverfolgung predigt, wird er zunächst in das Konzentrationslager Dachau, später in die Nervenheilanstalt Uchtspringe (Stendal) gebracht. Ungebeugt führt er nach dem Krieg seinen Weg fort. Jetzt ist es die sowjetische Besatzungsmacht, die ihn zurück nach Uchtspringe bringt. Dort stirbt er 1952 im Alter von 72 Jahren.

Bilder