Demenz: Verschüttete Fähigkeiten wecken

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Emotionale Zuwendung vermittelt dementen Menschen eine höhere Lebenszufriedenheit. Leider ist im normalen Pflegealltag wenig Raum für eine ganzheitliche Betreuung. Dabei wäre ein heilpädagogischer Ansatz sinnvoll, wie Heike Schricker in ihrer Abschlussarbeit beschreibt. Foto: Jörg Stipke/epd Foto: red

Herr R. bewegt sich gedanklich überwiegend in seiner Kindheit. Oft ist er schläfrig. Und wenn er so dasitzt, wirkt er, wie in sich selbst versunken. „Ich kenne zwar die Welt nicht mehr. Aber ich bin froh, wenn ich mich jeden Tag mal mit zwei bis drei Leuten unterhalten kann“, sagt er zu Heike Schricker. Die Heilpädagogin hat ihre Erfahrungen mit dementen Menschen aufgeschrieben - und dafür einen Förderpreis erhalten.

 
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Die Neuenmarkterin ist gelernte Krankenschwester, arbeitete in Kliniken, in der ambulanten Pflege und in Heimen für alte und behinderte Menschen. Doch darüber, wie es aktuell in der Pflege läuft, wurde sie immer unzufriedener. „In der Altenpflege habe ich erlebt, dass hauptsächlich die körperlichen Bedürfnisse beachtet werden“, sagt Heike Schricker. Essen, Trinken, die Körperhygiene und das Medizinische stünden im Vordergrund. „Man muss schauen, dass man seine Arbeit schafft. Für Zwischenmenschliches bleibt keine Zeit.“

Mitgefühl, Verständnis und Respekt

In ihrer Abschlussarbeit an Fachakademie für Heilpädagogik der Diakonie Neuendettelsau in Hof konnte sie nachweisen, wie wichtig emotionale Zuwendung gerade für Demenzkranke ist. Über einen längeren Zeitraum versorgte sie dafür je zwei demenzkranke Männer und Frauen in einem Bayreuther Seniorenheim. „Dabei ging es mir nicht darum, ein Leiden zu behandeln“, sagt Heike Schricker. Vielmehr habe sie versucht, den Menschen Mitgefühl, Verständnis und Respekt entgegenzubringen. Wertschätzung und ein Sicheinlassen auf die Sprache des Gegenübers waren entscheidende Bausteine. „Ich habe mich nicht auf die Defizite konzentriert, sondern darauf, was noch da ist.“

Wöchentliche Treffen in der Kleingruppe

Das Krankheitsbild der Menschen, die die 48-Jährige betreute, war sehr unterschiedlich: Von apathisch bis gesprächsbereit, von lethargisch bis aufbrausend erlebte sie deren Verhalten. Die Demenzpatienten haben teils Schlaganfälle erlitten, zittern, sprechen undeutlich oder sind auf Rollstühle und Rollatoren angewiesen. „Trotzdem kann man an diese Menschen herankommen“, schildert Heike Schricker ihre Erfahrungen. Selbst wenn sie den Namen vergaßen, erkannten sie Heike Schricker an der Stimme. Sie traf sich dafür mit ihnen einmal in der Woche ein bis zwei Stunden lang. Zu ihren Angeboten gehörten Gespräche über den eigenen Lebenslauf, Musik, Spiele, Bewegung und handwerkliches Arbeiten.

Auf die Welt der anderen eingehen

So blühte Herr R., ein ehemaliger Schreiner, bei der Arbeit mit Holz für ein Vogelhaus regelrecht auf. Obwohl seine Denkleistung insgesamt nachlässt, traten einst erlernte Fähigkeiten wieder zutage. „Er hat Kräfte mobilisiert, die vorher verschüttet waren und zum Beispiel seine Tasse beim Trinken plötzlich wieder selbst gehalten.“ Die Bestätigung tat Herrn R. gut. Sich angenommen fühlen, merken, man ist noch wer, diese Gefühle will die Heilpädagogin stärken. „Ich beschäftigte mich mit den Menschen und ging auf ihre Wirklichkeit ein.“ Dazu gehöre auch, die Demenzkranken nicht mit Tatsachen zu konfrontieren und auf ihre Welt einzugehen. „Es bringt nichts, jemanden zu korrigieren, der das in den nächsten Minuten sowieso vergessen hat.“

Sitzen auf dem Gang die Regel

Durch Zuwendung entstehe Vertrauen, sagt Heike Schricker, die aktuell mit psychisch kranken Erwachsenen arbeitet. Aggressives Verhalten sei dagegen oftmals auf Gefühle von Unsicherheit, Scham und Wut zurückzuführen. Die 48-Jährige will lieber Brücken zwischen der Welt der Demenzkranken und der realen Welt bauen. Dafür sei Geduld nötig - und eben Zeit. Doch noch fehlten in den meisten Einrichtungen entsprechende Fachkräfte. Bereits der übliche Stellenschlüssel reiche nicht aus, um eine emotionale, individuelle Zuwendung zu ermöglichen. Auch an Räumen für Gruppenarbeit mangelt es, meistens sind eher Sitzgruppen auf dem Gang die Regel.

Mit dem Verlust des Selbst zurechtkommen

Soziale Teilhabe und Kommunikation seien jedoch unerlässlich für demente Menschen, lautet das Fazit ihrer Studie. Für diese erhielt sie in Berlin eine Auszeichnung auf der Bundesfachtagung für Heilpädagogik. Ihre mit „sehr gut“ bewertete Arbeit wurde auch als Buch veröffentlicht. „Meine Hoffnung ist, dass ich einen kleinen Samen dafür legen konnte, damit die Heilpädagogik in der Altenpflege einen besseren Stellenwert bekommt.“ Denn diese könne viel zur psychosozialen Gesundheit von Senioren beitragen. Und ihnen helfen, mit dem Verlust der Denkfähigkeit zurechtzukommen.

Info: "Emotion als Ressource. Kommunikation und Interaktion im Rahmen heilpädagogischer Hilfe bei Menschen mit Demenz." 60 Seiten, BHP Verlag, Berlin. ISBN: 978-3-942484-25-1.

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