Das Ukraine-Tagebuch „Wir werden die Sperrstunde an Silvester umgehen“

Thomas Simmler. Foto: Alexander Wunner

Vor einem Jahr hat Thomas Simmler seinen ersten Jahreswechsel unter Kriegsrecht erlebt. Das gilt in der Ukraine auch heuer wieder. Die Menschen versuchen trotzdem zu feiern – im Rahmen ihrer Möglichkeiten.

 
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Das neue Jahr wird an vielen Orten in der Ukraine beginnen, wie das alte zu Ende geht: Mit heulenden Sirenen, Krach und Luftalarm. Dafür werden die Russen schon sorgen. Sie wollen nicht, dass die Ukrainer einmal an etwas anderes denken können. Sie wollen sie im Kopf brechen.

Noch immer gilt Kriegsrecht im Land. Feuerwerk und Massenansammlungen sind verboten – auch die Sperrstunde gilt. Lily und ich werden sie umgehen. Wie viele Ukrainer auch. Die Leute mieten sich einen Raum und bleiben über Nacht. Wir werden in die Karpaten fahren. 30 Kilometer weg von Truskawez gibt es einen kleinen Kurort. Letztes Jahr habe ich dort allein Silvester gefeiert. Heuer, mit Lily, wird es sicher viel schöner. Sie hat Weihnachten mit ihrer Schwester aus Odessa verbracht, nun aber angerufen, dass sie Silvester mit mir feiern möchte. Das hat mich natürlich riesig gefreut. Jetzt muss ich noch alles organisieren. In einem Restaurant wartet auf uns ein Abend mit gutem Essen, Tanz, Gesang und viel ukrainischer Folklore. Die Menschen schaffen es, gewissermaßen zwei Leben zu leben. Heute feiern sie, morgen ist wieder Krieg.

Weihnachten hat mich heuer an zu Hause erinnert. Truskawez war von Schnee überzuckert. Im Park wurden Weihnachtslieder gesunken, dazu der Markt, die Feuer zum Wärmen und die Sternsinger. Die kommen hier an Weihnachten und nicht am Dreikönigstag. Alles war anders als letztes Jahr, als der Krieg alles bestimmt hat. Was es praktisch nicht mehr gibt, sind die russischen Traditionen. Dort nimmt man sich ein paar Minuten vor Mitternacht ein Glas in die Hand, denkt übers alte Jahr nach und hört dem Präsidenten zu bei seiner Ansprache. Eines ist klar: Den will in der Ukraine niemand hören. An einem solchen Abend noch weniger als sonst.

Hans-Thomas Simmler aus Mainleus hält sich seit Kriegsbeginn in der Ukraine auf. Nach Angriffen der Russen in der Nähe des Atomkraftwerks Saporischschja ist er im Kurort Truskawez im Westen des Landes untergekommen.
V
on dort berichtet er in dieser Kolumne regelmäßig aus dem Alltagder Menschen vor Ort.

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