Das Netz tobte, aber nach drei Tagen stellt sich der Sachverhalt um das Flüchtlingsmädchen und die Kanzlerin etwas anders dar #merkelstreichelt und Asyl für Reem: NDR unterschlug entscheidende 3,5 Minuten

Aydan Özoguz (SPD), Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, sieht Chancen, dass Reem (r.) in Deutschland bleiben kann. Foto: dpa/Youtube Foto: red

Nach dem „Bürgerdialog“ mit Angela Merkel in Rostock ging im Netz unter #merkelstreichelt ein Shitstorm über die Kanzlerin nieder. Sie sei "gefühlskalt" und "empathie-unfähig". Die Migrationsbeauftragte der Bundesregierung, Aydan Özoguz, machte daraufhin dem libanesischen Mädchen Reem Hoffnungen, dass sie nicht abgeschoben wird. Nur: Eine Abschiebung stand nicht im Raum. Der NDR hat bei der Ausstrahlung entscheidende 3,5 Minuten des Videos unterschlagen, in denen Merkel und Reem die Lage des Mädchens erörtern.

 
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Was bisher passierte:

Die 14-jährige Schülerin Reem hatte am Mittwoch bei einer Veranstaltung in der von der Regierung gestarteten Kampagne „Gut leben in Deutschland“ über die Belastungen während eines Asylverfahrens berichtet. Sie sagte Sätze wie: "Es ist sehr unangenehm zuzusehen, wie andere das Leben genießen können und man selber kann es nicht."

Merkel äußerte Verständnis, verwies aber auf die deutschen Gesetze, die für alle Flüchtlinge gälten. Sie machte deutlich, dass Deutschland nicht alle Menschen aufnehmen könne, die sich hier ein besseres Leben erhofften. Daraufhin brach Reem in Tränen aus. Merkel versuchte, das Mädchen zu trösten, streichelte ihm über den Hinterkopf, wiederholte aber auch ihren Verweis auf die Gesetzeslage - und erntete dafür mächtig Kritik.

Der Shitstorm:

Unter dem Hashtag #merkelstreichelt empörten sich in den sozialen Netzwerken, vor allem auf Twitter, unzählige Menschen über Merkels Verhalten. "Kalt", "emotionslos", "Eiskanzlerin", sogar "unmenschlich" nennen sie die Kanzlerin.

Außerdem zog sich Merkels Presseabteilung den Zorn vieler zu: "Vor lauter Aufregung musste das Mädchen weinen", wird die Situation im Blog zum Bürgerdialog "Gut leben in Deutschland" zunächst beschrieben. "Zynisch" und "obendrein gelogen", empörten sich User. Ohne Erklärung änderten die Verantwortlichen den Text daraufhin in: "Das Mädchen musste weinen und wischte ihre Tränen mit einem Taschentuch weg."

Andere fragten aber auch: "Wie hätte Merkel denn in dieser Situation sonst reagieren sollen?" "Gut,dass sie das Kind nicht anlügt", findet ein anderer Twitter-Nutzer. Und nachdem die Bundesregierung öffenltich nach Lösungen für die Situatiuon von Reem und ihrer Familie suchte, stellte sich die Frage, ob man als (plötzlich) "berühmter Flüchtling also auf einen Aufenthalt setzen kann, während für andere andere Kriterien gelten.

Was danach öffentlich wurde:

Nur: Eine Abschiebung hat Reem vermutlich nie gedroht. Dies macht am Samstagabend das ungekürzte Video des Dialogs zwischen dem Mädchen und der Kanzlerin deutlich, das die Schweizer Website watson.ch veröffentlichte, nachdem das Video in voller Länge auch auf den Webseiten von NDR-"Panorama" und der Bundesregierung eingestellt wurde. Bei der ARD und auch dem ARD-YouTube-Kanal gibt es lediglich die verkürzte Version, die so sehr für Aufsehen sorgte.

Die lange Fassung stellt den ganzen Sachverhalt sehr viel differenzierter dar - und Merkel gar nicht so unmenschlich, wie sie das Netz in der Mehrheit sah. Gleich zu Beginn des Dialogs wird deutlich, dass Reems Familie gar nicht die Abschiebung droht, sondern dass sie vorläufig aufgenommen ist. Die Kanzlerin reagiert darauf ebenfalls differenziert. Sie sagt: "Wenn jemand vier Jahre hier ist, dann ist es halt sehr schwer zu sagen: So, und jetzt hast du schön Deutsch gelernt, bist integriert, und jetzt stellen wir fest, nach vier Jahren, das ist gar kein richtiger Asylantrag. (...) Dann werden wir überlegen, wie gehen wir mit denen um, die schon viele Jahre hier sind und immer in so einem Zwischenzustand sind, da wollen wir jetzt ein beschleunigtes Verfahren machen, davon könntest du vielleicht auch profitieren."

Und Merkel differenziert zwischen palästinensischen Flüchtlingen wie Reem und ihrer Familie und beispielsweise syrischen Flüchtlingen, die vor einem Bürgerkrieg fliehen. Und dass die Syrer Vorrang haben, das sieht auch Reem so. 

Wie es ist mit dem Gesetz und dem Aufenthaltsrecht:

Eine Reform des Aufenthaltsgesetzes hat vor einer Woche den Bundesrat passiert: Ausländer, die bislang nur geduldet sind, dürfen in Zukunft längerfristig in Deutschland bleiben, wenn sie schon seit einigen Jahren hier leben (grundsätzlich acht Jahre, Menschen mit minderjährigem Kind sechs Jahre), die Sprache gut beherrschen und ihren Lebensunterhalt selbst sichern können. Das Gesetz muss noch von Bundespräsident Joachim Gauck unterschrieben werden.

„Ich kenne natürlich nicht die persönlichen Umstände des Mädchens, aber sie spricht perfekt Deutsch und lebt offenbar schon länger hier. Genau für diese Lebenslagen haben wir gerade das Gesetz geändert, damit hier integrierte Jugendliche eine Perspektive bei uns bekommen“, sagte Özoguz am Freitag zu „Spiegel Online“. Hätte sie das Video und damit den Dialog in voller Länge gesehen, wäre ihre Handlungsgrundlage von Anfang an eine ganz andere gewesen. Und die Bundeskanzlerin hätte vielleicht nicht so einen Shitstorm erlebt.

mcf/kfe/dpa

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