Comeback mit Methadon Die Ersatzdroge ist für viele Heroinsüchtige die letzte Chance

Von Thorsten Gütling

Barbara war eigentlich schon tot. Die 50-Jährige, die wie alle Drogensüchtigen in dieser Geschichte ihren echten Namen nicht lesen will, hatte ihre Leber durch Drogen und jede Menge Alkohol schon zerstört. Leberzirrhose im Endstadium sagten die Ärzte – Transplantation unmöglich. Barbara bereitete sich bereits aufs Sterben vor, entrümpelte ihre Wohnung, verschenkte ihren Schmuck und meldete sich im Hospiz. Roland Härtel-Petri bot ihr dennoch eine Substitution an. Mit Hilfe der Ersatzdroge Methadon wollte ihr der Oberarzt am Bezirkskrankenhaus die letzten Tage so erträglich wie möglich machen. Barbara sollte keine Entzugserscheinungen haben. Das war vor zehn Jahren. Barbara lebt immer noch – wie sie selbst sagt, besser denn je.

 
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Barbaras Suchtkarriere beginnt mit 14 Jahren. Erst ein Bier, später täglich eine Flasche Schnaps. Als die Leber zu kaputt ist, ersetzt sie den Schnaps durch drei Flaschen Wein. Dazu Cannabis, später Schmerzmittel, meist Morphium, aber auch Tramadol, Valoron und Codein – außerdem Diazepam, ein Schlafmittel. Die Medikamente erschleicht sich Barbara bei verschiedenen Ärzten unter Vorspiegelung irgendwelcher Erkrankungen. Später kommen Heroin und Kokain dazu. Das gibt's nicht auf Rezept. Dazu muss Barbara bei dubiosen Dealern hausieren gehen.35 Jahre lang macht sie sich keine Gedanken darüber, wie sie den Absprung schaffen will. Irgendwann ist nicht nur die Leber kaputt, sondern auch der Rest des Körpers. Lungenentzündungen und Knochenbrüchen häufen sich. Zehn, vielleicht zwölf Mal ist Barbara auf Entzug. Drei Langzeittherapien hat sie hinter sich. Die Zeit beschreibt sie als reinen Horror. Trotzdem wird sie immer wieder rückfällig.

Anfangs ist die Ausgabe Gefährlich

„Ich würde sie gerne lebenslang substituieren", sagt Härtel-Petri über Barbara. Dann müsste sie weiterhin zwei Mal in der Woche im Bezirkskrankenhaus vorstellig werden, Urinproben abgeben und beweisen, dass sie sauber bleibt. Im Gegenzug erhält sie ihre Ration Methadon. Den Stoff für den Rest der Woche bekommt Barbara mit nach Hause. Take-Home nennt sich das. Anfangs ist die Ausgabe gefährlich. „Weil wir eine Dosis verschenken, die einen Menschen, dessen Körper keine Opiate gewohnt ist, umbringen könnte", sagt Härtel-Petri. Ungeübte schlafen nach der Einnahme einfach ein und vergessen dabei zu atmen. Sandra ist geübt. Seit acht Jahren versorgt Härtel-Petri sie mit Methadon für die ganze Woche. Die 40-Jährige hat damit ihren Alltag wieder in den Griff bekommen, hat zwei Jobs, denen sie nachgeht. Sandra putzt und steht als Verkäuferin an der Kasse eines Supermarktes. Einst hatte sie Abitur gemacht und von einem Studium geträumt. Doch dann nahm die Drogenkarriere Fahrt auf. Auf Cannabis folgten Heroin, Diazepam, Valium und Crystal. 22 Jahre ging das so. Weil Sandra selbst mit Heroin dealte, um an Geld zu kommen, bekam sie ein Jahr auf Bewährung. „Weil es mir nie schlecht dabei ging, fehlte auch der Wille zum Aufhören", sagt Sandra heute. Auch, dass ihre Arme und Beine von Hunderten Nadelstichen grün und blau waren, lies sie kalt. Wer sich nur noch unter Abhängigen bewegt, muss sich dafür nicht schämen. Mit dem Alter kam aber die Einsicht: „Wäre ich nicht zur Substitution gegangen, wäre ich heute entweder noch drauf, im Knast oder tot."

Maximal 50 Personen

Sandra hatte Glück. Wäre die Einsicht erst später gekommen, hätte das Bezirkskrankenhaus sie vielleicht gar nicht mehr in das Programm aufgenommen. „Weil die Personalsituation nicht mehr Patienten zulässt", sagt Härtel-Petri. Nach dem Gesetz darf ein Arzt nicht mehr als 50 Patienten substitutionieren. Als Sandra kam, wurden am BKH noch an 120 Menschen mit Methadon versorgt. Bis im vorigen Jahr eine Oberärztin die Klinik verließ, waren es immerhin noch 75. Mittlerweile ist Härtel-Petri der einzige Substitutionsarzt in Bayreuth. 25 Patienten mussten das Programm  daraufhin verlassen. Erwischt hat es die, bei denen nachgewiesen wurde, dass sie neben Methadon noch andere Drogen zu sich nehmen. Beigebrauch nennt sich das und gilt in der Substitution als absolutes No-Go. Wie es den Menschen heute geht, weiß Härtel-Petri nicht. Er vermutet, dass sie wieder in der Szene sind. Doch helfen kann er ihnen nicht. Mit jeder weiteren Ausgabe von Methadon würde er gegen das Betäubungsmittelgesetz verstoßen.

Nicht alle wollen mit Methadon leben

Ob Sandra eines Tages wieder ganz ohne Drogen leben kann, bestimmt auch ihr Umfeld. Johannes will deshalb umziehen, sobald er sauber ist. Zu Hause erinnert ihn zu viel an die Zeit im Drogensumpf. Nicht auszuschließen, sagt er, dass er beim Aufräumen noch die ein oder andere Nadel findet. Johannes ist ein Beispiel dafür, dass nicht alle Drogenkranken mit Methadon leben wollen. Der 30-Jährige war einst ein begnadeter Fußballspieler. Doch vier Jahre Drogenkonsum haben dafür gesorgt, dass ihm alles egal wurde: Körperhygiene und Trainingszeiten sowieso. Heute wünscht er sich nichts sehnlicher, als ein Comeback. Drei Jahre hat er auf Speed, Ecstasy und Heroin seinen Beruf als selbstständiger Handwerker ausgeübt. Dann zog er die Reißleine. Im BKH wird er jetzt auf Methadon eingestellt. Sein Nürnberger Substitutionsarzt nimmt ihn nur auf, wenn er frei von Opiaten ist. Für Juni hat Johannes einen Therapieplatz in Aussicht. Mit Hilfe des Arztes hofft, er, die Zeit bis dahin zu überstehen. Auf den Termin bei dem Arzt habe er acht Wochen warten müssen. „Machen Sie solange einfach weiter wie bisher", hieß es. Leichter gesagt als getan, wenn dazu täglich Heroin im Wert von 70 Euro nötig ist.

Krankenkasse zahlt

Das Methadon, das er im BKH erhält, ist für ihn kostenlos. Für den Stoff und die Ausgabe stellt Härtel-Petri der Krankenkasse jeden Monat 100 Euro in Rechnung. Verglichen mit dem Pflegesatz von 200 Euro, die ein stationärer Entzug jeden Tag kostet, sind das Peanuts. Und dennoch bezahlen die Kassen eine Substitution in der Regel nur für 15 Jahre. Dann wird verhandelt.Was Johannes im Juni bevorsteht, macht Torsten gerade durch. In acht Wochen will er das BKH entgiftet verlassen. Es ist sein vierter Anlauf. Mit 17 Jahren begann seine Drogenkarriere. Seit 12 Jahren wird er substitutioniert. Immer wieder hat er trotzdem weiter Psychopharmaka, Crystal und Fentanyl genommen. Jetzt will er nicht nur davon, sondern endlich auch von Methadon los kommen. „Der Stoff ist zwar bequem, hat aber ja keine echte Wirkung", sagt Torsten. Soll heißen: Den Rausch, den Drogensüchtige schätzen, bewirkt die Ersatzdroge nicht. „Koks ist geballert viel geiler als gerotzt", sagt er wie zum Beweis.

Schmerzpflaster als Alternative

Methadon kostet auf der Straße etwa 5 Euro je Milliliter. Um ihr Bedürfnis zu stillen, bräuchten Johannes und Torsten jeden Tag rund 6 Milligramm davon. Für ihre Ration Heroin zahlen sie bis zu 70 Euro. Immer mehr Süchtige greifen deshalb seit ein paar Jahren zum Schmerzpflaster. Das ist für 15 Euro zu haben und das darin enthaltene Fentanyl reicht für rund zehn Schüsse. Dazu wird das Pflaster in Schnipsel geschnitten, der gegen Tumorschmerzen entwickelte Wirkstoff mit einem Löffel über einer Flamme ausgekocht und anschließend ins Blut gespritzt. Für viele ist so ein Pflaster sogar billiger als die Fahrt zur kostenlosen Substitution. Und immer mehr greifen nicht nur anstelle der Ersatzdroge Methadon zum Schmerzpflaster: Die, die seit der Substitution zwar keinen Suchtzwang aber auch kein Rauscherlebnis mehr haben, greifen gleich zu beidem. Junkies suchen eben auch dann nach dem Kick, wenn die Rezeptoren gesättigt sind. Torsten sagt, in den vergangenen zwei Jahren seien zehn Bekannte aus der Szene an Fentanyl gestorben. „Fentanyl ist der Killer unter den Opiaten", sagt Härtel-Petri. Das Pflaster sei dabei, die Erfolge des Methadonprogramms in kurzer Zeit zunichtezumachen.

Info: Opiate sind Schmerzmittel. Sie wirken an den Rezeptoren im Gehirn und regulieren das Schmerzempfinden. Führt man dem Körper regelmäßig fremde Opiate zu, hört er irgendwann auf, eigene herzustellen. Auch die Rezeptoren verändern sich mit der Zeit. Methadon gilt als Allzweckwaffe. Es passt auf alle Rezeptoren und führt dazu, dass das Bedürfnis nach Opiaten und die Entzugssymptome nachlassen.

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