Natürlich können Mütter ihre Töchter nicht lassen. Um sie zu halten, gibt es genügend probate Formen der sanften Erpressung. Mit dem Programm-Faltblatt zu seiner jüngsten Studioproduktion weckt das Landestheater Coburg Erwartungen, man erfahre näheres über dieses archaische Machtinstrument aus einer Zeit, in der es noch keine Daumenschrauben gab. „Nacht, Mutter“, ein Stück der amerikanischen Pulitzerpreisträgerin Marsha Norman, hatte am Sonntag in der Coburger Reithalle Premiere.

Daumenschrauben sind, so der Tenor dieser Inszenierung von Thilo Voggenreiter, die reinen Streichelinstrumente gegen das, was nahe Angehörige im engen Gehäuse einer Lebenspartnerschaft einander antun können.

Diese Bühnen-Jessie zum Beispiel hat ihre Mutter im nämlichen Schwitzkasten, in dem sie selber gehalten wird, seit sie als Epileptikerin nicht mehr alleine leben darf und ihr nach mehreren Daseinspannen nur noch die Haushaltsgemeinschaft mit Mama möglich ist. Wäre Jessie darüber depressiv geworden, niemanden hätte es gewundert. Aber sie ist so gut wie emotionslos, als sie beschließt, sich mit Pistolenhilfe aus diesem perspektivlosen Leben zu verabschieden. So wie ein Radio, so kann man auch ein Leben abschalten. Hätte sie’s sang- und klanglos gemacht, ohne die Mutter davon zu unterrichten und mit ihrem „Nachlass“ vertraut zu machen, wäre dem Publikum das Gemetzel im Haus der Cates erspart geblieben – und ein spannendes, wenn auch nicht in jedem Punkt schlüssiges Theaterstück entgangen.

Unter Mutters Schürze

Was fällt Müttern ein, um ihr Kind am Suizid zu hindern, und warum? Wie versuchen Kinder, auch wenn sie wie Jessie selber welche haben, aber unter Mutters Schürze geflüchtet sind, sich vor solcher Bevormundung zu schützen?

Marsha Norman muss eine Antwort auf derlei Fragen für belanglos gehalten haben, denn sie schrieb das Stück nach einer wahren Begebenheit nur für sich selber.

So machte sie auch keine Kompromisse. Nicht zuletzt deshalb kam sie damit beim Publikum gut an – und auch bei Kritikern, die der Autorin in den 80er Jahren dafür den Drama-Pulitzerpreis zuerkannten. Leider gab es bei der neuesten Umsetzung trotzdem Kompromisse. Die sind der Tatsache geschuldet, dass ein Theater dieser Größenordnung selten über das Ideal-Personal verfügt. Statt einer alten Mutter, die man wegen ihrer Hinfälligkeit so betuttern muss, wie das Stück es verlangt, hat man es mit der knackigen Elga Mangold zu tun, die eine gestandene Oma mit einem erwachsenen Enkel zu sein hat.

Regisseur Thilo Voggenreiter hat erst gar nicht den Versuch gemacht, den beiden künstliche Patina überzustülpen. Er lässt sie, frisch wie sie sind, von der Leine und aufeinander los, was der handgreiflichen Handlung gut bekommt. Außerdem – und das ist kaum hoch genug zu schätzen – lässt er die Frauen ihre Unflätigkeiten nicht zur Seite, sondern bestens verständlich ins Publikum schleudern. Feine Nuancen stehen ihnen trotzdem zu Gebot. Besonders Anja Lenßen gelang ein hinreißendes Sich-Ausbreiten von Entsetzen auf ihrem Gesicht.

Ein sichtlich betroffenes Publikum spendierte erst zögernden, dann aber umso herzlicheren Applaus.





INFO Weitere Aufführungen: 1., 2., 4., 5., 8., 28. und 29. Oktober.