Carina Meyers verschlingt am Tag über 3000 Kilokalorien Mein Leben mit der Esssucht

Von Martina Bay
Foto: Ronald Wittek Foto: red

Carina Meyer ist essüchtig. Sie verschlingt große Mengen an Essen. Danach kommt die Selbstzerfleischung. Sie hat ein schlechtes Gewissen, schämt sich, geht nicht mehr aus dem Haus. Und isst wieder. Ein Teufelskreis.

 
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Carina Meyers (Name geändert) Essstörung ist wie eine beste Freundin. Sie tröstet sie, wenn sie frustriert, traurig oder gestresst ist. In ihren einsamen Stunden ist sie an ihrer Seite. Ihre beste Freundin hat man ihr praktisch schon in der Kindheit zur Seite gestellt. „Zum Trost gab es bei uns immer was zu essen“, sagt Meyer.

Die 50-Jährige ist esssüchtig. Sie hat eine Binge-Eating-Störung ("Binge" ist Englisch und bedeutet Gelage), bekommt Heißhungeranfälle, bei denen sie große Mengen an Essen verschlingt, bis ihr schlecht ist. Im Gegensatz zu Bulimikern spukt Meyer ihr Essen danach nicht aus.

Mit 21 Jahren wiegt sie 120 Kilogramm

Ihre beste Freundin erscheint phasenweise: mal einige Tage, manchmal mehrere Wochen hintereinander. Dann machen es sich die beiden auf dem Sofa vor dem Fernseher gemütlich, während Meyer Chips, Schokolade und Tiefkühlpizza verschlingt. Das Alibi-Obst, das Meyer aus schlechtem Gewissen kauft, vergammelt derweil im Kühlschrank. Non-Stop-Essen bis zum Limit.

Mit 21 Jahren wiegt Meyer 120 Kilogramm. Damals gibt es noch keine modische Kleidung für Übergewichtige. „Du ziehst den Bauch ein und leidest“, sagt sie. Meyer trägt die Hemden ihres Vaters. Als sie von zu Hause auszieht, gibt es keine Kontrolle mehr. Jetzt hat die Essstörung Meyer ganz für sich alleine. „In schlimmen Phasen habe ich am Tag über 3000 Kalorien zu mir genommen“, sagt Meyer.

Bluthochdruck, Rückenschmerzen, Atemaussetzer

Nach dem Essanfall kommt die Selbstzerfleischung: „Du hast es wieder nicht auf die Reihe gebracht. Du kannst gar nichts.“ Die Essstörung macht Meyer auch körperlich krank: Diabetes, Bluthochdruck, Rückenschmerzen, Atemaussetzer in der Nacht. Ihr Höchstgewicht: 140 Kilogramm bei einer Größe von 1,68 Meter. „Das war mein absoluter Tiefpunkt. Ich habe Antidepressiva genommen.“

Bis auf ihre Arbeit verlässt sie ihre Wohnung kaum noch. Sich einfach in ein Café setzen ist für Meyer unvorstellbar. „In die Puppenstühle passe ich nicht rein“, sagt sie. Sie fühlt sich beobachtet. Glaubt, jeder starrt sie wegen ihrem dicken Körper an. Und sie hört auch Sprüche wie „Schau mal, die Fette soll mal weniger essen“. Also kehrt sie wieder nach Hause. In die Fänge ihrer besten Freundin.

Wenig Freunde, kein Partner

Die innige Beziehung zu ihrer Essstörung hat Meyer einsam gemacht: Wenig Freunde, kein Partner, keine Kinder. „Ich war so mit mir beschäftigt.“ Sie habe auch Angst gehabt, sich auf einen Partner einzulassen. Und wenn es dann mal jemanden gab, habe sie stark geklammert.

Mit 140 Kilogramm lässt sie sich den Magen verkleinern

Der Leidensdruck wird immer größer. Meyer lässt sich deswegen den Magen verkleinern. 40 Kilogramm hat sie schon verloren. „Durch die Operation ist die Esssucht aber nicht weniger schwierig“, sagt sie. Wegen der Magenverkleinerung kann sie weniger essen. Manchmal sitzt sie vor ihrem Teller und hört ihre beste Freundin sagen: „Das ist viel zu wenig, davon wirst du nie satt.“

Seit sie in Therapie ist, kann sie ihre Esssucht besser kontrollieren. „Man schaut bewusster hin. Vor allem, warum man in bestimmten Situationen was essen möchte.“ Sie sei dann aber besonders frustriert, wenn sie doch wieder einen Essanfall bekomme. An solchen Tagen wandert sie wie ein Tiger in seinem Käfig vor dem Kühlschrank auf und ab. Um dann doch wieder zuzuschlagen.

Manchmal kann sie das Essen auch genießen

„Die Essstörung wird immer präsent sein“, sagt sie. Seitdem sie durch die Magenverkleinerung so viele Kilos verloren hat, geht es ihr schon deutlich besser. Mittlerweile gönnt sie sich auch mal ein Eis. In aller Öffentlichkeit, ganz ohne schlechtes Gewissen. „Ich wusste lange gar nicht, dass man Essen genießen kann.“ Ihre beste Freundin ist da für einen kurzen Moment ganz weit weg.

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Info: Die Selbsthilfegruppe für Essstörungen der Suchtberatung der Diakonie Bayreuth trifft sich jeden ersten und dritten Donnerstag um 19.30 Uhr in der Kolpingstraße 1. Vor der Teilnahme bei der Selbsthilfegruppe ist ein Termin bei der Suchtberatung erforderlich. Die Suchtberatung ist telefonisch erreichbar unter 0921/78 51 77 30. Öffnungszeiten: Montag bis Donnerstag: 8 Uhr bis 12 Uhr, 13 Uhr bis 17 Uhr. Freitag: 8 Uhr bis 12 Uhr, 13 Uhr bis 16 Uhr.

Diese Arten von Essstörungen gibt es:

Bei Esstörungen unterscheidet man zwischen Magersucht, Bulimie und Binge-Eating, wobei in allen Fällen wesentlich mehr Mädchen und Frauen betroffen sind.

Magersucht (Anorexia nervosa): Bei der Magersucht führen die Betroffenen den Gewichtsverlust bewusst herbei. Sie sind auffallend dünn und finden sich auch dann noch zu dick, wenn sie schon untergewichtig sind.

Bulimie (Bulimia nervosa): Der Körper von Bulimikern ist meistens schlank, aber unauffällig. In kurzer Zeit werden große Nahrungsmengen gegessen und danach wieder erbrochen. Die Krankheit tritt meist zwischen 18 und 20 Jahren auf. Bei Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahren tritt die Magersucht am häufigsten auf.

Binge-Eating-Störung: "Binge" ist Englisch und bedeutet Gelage. Es entsteht eine Situation, in der übermäßig viel gegessen wird. Im Gegensatz zu Bulimikern spucken sie das Essen im Anschluss nicht aus. Häufig sind die Betroffenen übergewichtig.

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