Ein Gesamtkunstwerk: Dies dürfte die Überzeugung des begeisterten Publikums gewesen sein, das im Markgräflichen Opernhaus der Aufführung von Elisabeth-Claude Jacquet de la Guerres „Céphale et Procris“ teilhaftig wurde – womit die Trilogie des „Bayreuther Barock 2009“ zu einem triumphalen Ende kam. „Die Herzen des zeitlosen Publikums zu erreichen“, darum ging es dem Regisseur Sergio Pelacani, der uns mit der exzellent aufspielenden Musica Fiorita unter der Leitung von Daniela Dolci und den singenden Menschen auf der Bühne einen großen Abend bescherte.

Auch 316 Jahre nach der missglückten Uraufführung der einzigen „Tragédie mise en musique“ der Komponistin kommt das Werk beim modernen Publikum sichtlich an. Das machen die Handlung, die gar nicht so kompliziert ist, wenn man sich auf das Wesentliche konzentriert. Und natürlich die Liebe. Sie triumphiert selbst dann, wenn die beiden Titelhelden am Ende tot zusammenliegen.

Was bleibt, ist Rührung, zumal im zweiten Teil, da der Held, der auf den ersten Blick nur gockelhafte Céphale, zu den innigsten Tönen findet. Der Haute-contre Gonzalo Cuadra gibt ihm den butterweichen Schmelz leisester, doch umso tiefster Empfindungen. Erstaunlich ist überhaupt die Nuancierungsfähigkeit der Sänger, deren wendige Stimmen die schönsten Fiorituren in den Saal schicken. Graciela Oddones Procris, Mariana Flores’ grandiose Aurore, die zugleich – dramaturgisch stimmig – die Priesterin der Minerva ist, Camilla de Falleiro als gattungstypische Confidente namens Dorine, die Volupté der Gry Elisabeth Knudsen: Sie alle sind nicht nur wunderbar anzuhören. Sie sehen auch betörend aus, denn die bemerkenswerten Kostüme (auch sie ein Werk des Regisseurs) überraschen uns mit dem majestätischen Glanz eines neu geschöpften Barock. Hinreißend die Aureole der Aurore, auch ihr mächtiger schwarzer Kapuzenmantel, ihr blendender Silberglanz. Auf den ersten Blick ein wenig lächerlich, auf den zweiten einfach stimmig: die antikisierende, goldglänzende, stoffreiche Römertracht des Helden.

Gelungene Übung

Artifiziell wie konventionalisiert sind auch die Gesten und die Masken. Nur Procris trägt nicht das Weiß-Rot-Schwarz des asiatischen Theaters: sie allein repräsentiert – freilich auf höchstem künstlich-künstlerischem Niveau – die natürlichen Empfindungen eines schicksalhaft zum Scheitern verurteilten Individuums. Die Regie verkettet den Orient mit dem Okzident, wie die drei Herren Leidenschaften die Personen immer wieder aneinanderbinden und über die Bühne schleudern. Hier treffen sich die expressiven Gesten des Butoh-Theaters mit denen des alten europäischen Musiktheaters, und siehe da: die Übung gelingt. Nach ein paar Minuten hat man vergessen, dass diese Interpretation auf einer Spekulation beruht. In der Hocherotik sublimster Gesten und bewusster Blicke kommen zwei Kulturen zusammen, die im Zeichen der Liebe, der dramatisch notwendigen Rache und der Musik zusammengebunden werden.

Nicht zufällig beginnt das Spiel mit einem atmosphärisch starken, wenn auch zeremoniösen Schlagzeugsolo – erst dann betritt die Dirigentin im historisierenden Kostüm das Podium. Nicht zufällig lauschen wir einem durch Harfe, Theorbe und Cembalo metallisch grundierten Klang, der so süß wie schroff die Leidenschaften ausmisst: auch im Ballett, das in der Rekonstruktion barocker Choreografien ein zusätzliches Element der Deutung in das Stück hineinlässt. Wo Kunst und Künstlichkeit sich ununterscheidbar paaren ...

So „alt“ das auch aussieht, so unmittelbar wirkt es in die Gegenwart: durch die Präsenz der Gesten und der einschmeichelnden Stimmen. Am Ende steht kein pompöser Chor, sondern ein einsames Rezitativ. Tot denn alles, alles tot, wie es bei einem Nachfolger der Jacquet de la Guerre heißt – aber die Barockoper lebt. Lebensfreude will ja, nach eigener Aussage, die Produktion verbreiten, nur muss sie nicht schallend sein. Wo tiefe, unnennbare Freude herrscht, die sich im satten Beifall äußert, wird der Kulturbegriff sinnlich begreifbar gemacht. In diesen Momenten wird wieder einmal klar, dass das Markgräfliche Opernhaus nur dann seine Funktion erfüllt, wenn singende, lebende Menschen auf der Bühne stehen. Ansonsten wäre es ein schöner, aber toter Raum – ein Museum, aber nicht das, was es laut Tourismusprospekt vorgibt zu sein: ein Opernhaus, ein Haus für musikalisch grundierte Affekte, die uns immer noch tief bewegen.