Ein kleiner grüner Bleistift – mehr ist es nicht, was Eberhard Friedrich gegen seinen Chor in der Hand hat. Ein hölzernes Notenpult steht noch zwischen ihm und den 134 Sängern des Bayreuther Festspielchors. Darauf gut 500 Seiten Partitur, gebunden in drei Büchern: „Die Meistersinger von Nürnberg“. Aber ausschlaggebend ist der Bleistift: Gnadenlos trennt er die Pünktlichen von denen, die zu spät kommen. Jeden Takt neu.

Der Chorsaal gleicht einem Amphitheater im 80er-Jahre-Design. Mit grün gepolsterten Stühlen. In der Mitte, gewissermaßen auf der Bühne, sitzt auf einem Dirigentenstuhl Chordirektor Eberhard Friedrich – er sitzt und blättert in den Noten. Dahinter, am Flügel, sitzt André Kellinghaus, hauptberuflich erster Kapellmeister am Theater Pforzheim und in Bayreuth Chorassistent.

Zu proben ist heute: zweiter Akt „Meistersinger“ – die Prügelfuge. Friedrich, in Jeans und Ringel-Polohemd, sitzt und blättert immer noch. Die Sänger vor ihm, in Hemden, T-Shirts, Blusen und Trainingsjacken, unterhalten sich murmelnd – was bei 134 Sängern, die alle entweder professionelle Chorsänger oder Solisten sind, in etwa klingt wie Torjubel in einem mittleren Fußballstadion. Zumal dann, wenn hin und wieder einer der Herren schallend lacht – das klingt dann, als würde man den Motor eines Sechzehntonners anlassen.

Festwiese und Prügelfuge

„Guten Morgen, meine Damen und Herren“, sagt Friedrich plötzlich in normaler Chorleiterstimmen-Lautstärke – und schlagartig kehrt Ruhe ein. Eine kurze Ansage noch: „Heute Abend wird ,Festwiese dritter Akt‘ geprobt, nicht Festwiese zweiter Akt. Das steht zwar so auf dem Probenplan, aber im zweiten Akt gibt’s keine Festwiese.“ Kurzes Gelächter. Dafür gibt es im zweiten Akt die Prügelfuge – eine komplexe, zehnstimmige Passage, die eigentlich gar keine echte Fuge ist, sondern nur nach einem sehr flüchtigen ersten Hinhören so klingt. „Prügelszene wäre besser“, sagt Friedrich später. Aber: Gegen Bräuche und Konventionen ist kein Kraut gewachsen. Auch in Bayreuth nicht.

„Zwölf Takte voraus“, sagt Friedrich, Assistent Kellinghaus beginnt zu spielen, Friedrichs grüner Bleistift saust in Friedrichs rechter Hand jeweils zur Takt-Eins nach unten. Und Einsatz. „Schon zu laut, meine Damen und Herren, viel zu laut in allen Stimmen. Noch mal, wieder mit zwölf Takten Vorlauf.“ Und Einsatz – erst für den grünen Bleistift, dann für den Chor.

Friedrich ist im zehnten Sommer Chordirektor der Bayreuther Festspiele. Hauptberuflich leitet er den Chor der Staatsoper Unter den Linden in Berlin – die Probenzeit in Bayreuth beginnt Anfang Juni, wenn an anderen Opernhäusern mit großen Schritten die Theaterferien nahen. Vor seinem Einstand in Bayreuth im Jahr 2000 war er bereits sieben Jahre lang Assistent seines Vorgängers Norbert Balatsch. Unter anderem war er es, der mit Kollegen während der Vorstellungen auf einem der Beleuchtungstürme stand und dort mit einer kleinen roten Taschenlampe den Chor dirigierte. Den Dirigenten via Monitor immer im Blick, im Kopf die Zeit, die der Orchesterklang für den Weg vom Graben auf die Bühne braucht, um sich dort mit den Singstimmen zu mischen.

Taktvolle Feinarbeit

„Jaja, nein, halt“, macht Friedrich, „Sie dürfen sich natürlich nicht zuhören gegenseitig – wenn Sie das tun, verlieren Sie sofort an Tempo und werden zu langsam.“ Noch mal. Diesmal ohne die zwölf Takte.

Diese Feinarbeit ist es, die aus 134 Einzelstimmen im Laufe der Probenzeit mehr und mehr ein Instrument werden lässt.

Am Ende der laufenden Saison wird Friedrich 219-mal mit seinem Festspielchor den Schlussapplaus entgegengenommen haben – 21-mal in Spielzeiten mit dem „Ring des Nibelungen“, 30-mal in Spielzeiten ohne „Ring“. Und: Jeder einzelne der Abende schließt einen Bravo-Sturm für Friedrich ein – der immer ein bisschen verloren wirkt, wenn er auf der großen Bühne alleine vor seinem Chor steht. Allein: Es sieht nur so aus.

„Halt, nein, zu langsam.“ Friedrich bricht wieder ab. Gemurmel kommt auf. „Nicht kommentieren“, der Ton wird strenger. „Sie wissen genau, wie ich das haben will. Da gibt es nichts zu bereden.“ Und bitte. „Ja, gar nicht schlecht. Noch mal.“





Und bitte. Die Inszenierung schreibt für die Choristen während der Prügelszene eine komplexe Choreografie vor – hier im Chorsaal finden die entsprechenden Bewegungen im Sitzen statt. Als Trockenübung. „Na also, es geht doch“, sagt Friedrich. Gleich noch mal, jetzt mit halb so viel Lautstärke und doppelt so kurz.“ Drei Takte voraus. Und Einsatz. „Ja, mehr muss es nicht sein. Bitte weiter. Au, an dieser Stelle haben wir letztens auch ein paarmal neu angefangen, meine Damen.“ Und bitte. „Ja wunderbar, so muss es sein, genau so machen wir das dann nachher im Bühnenbild. Jetzt den Wachauf-Chor, bitte. Bleiben Sie gleich so sitzen.“

Gänsehaut

Vom Klavier tönt leise die aus einer 15-stufigen Tonleiter bestehende Einleitung, 134 Sänger – abzüglich einiger weniger – strecken das Kreuz durch, wer kann, breitet die Arme auf die Stuhllehnen links und rechts von sich, Sängerlungen füllen sich mit Luft, Einsatz für den grünen Bleistift: „Wach – auf!“ Gänsehaut. Unbändige Naturgewalten im Fortissimo, und einen Takt später wieder im Piano. „Es nahet gen den Tag.“ Ein Wunder, dass das Dach noch auf den Balken sitzt. „Ich hör’ singen im grünen Hag ein’ wonnigliche Nachtigall“, Friedrich verzieht keine Miene, zeichnet mit dem linken Zeigefinger die Melodiebögen in der Luft nach, „ihr’ Stimm’ durchdringet Berg und Tal.“ Friedrichs grüner Bleistift winkt ab. „Ganz prima. Aber, meine Herren, singt nicht so laut, wie ihr könnt. Ein bisschen weniger ist genug, glaubt’s mir.“

Kurzer Blick zum Assistenten. „Und jetzt, zum Abschluss, noch das Ende. Ehrt Eure deutschen Meister, Seite 508.“ Friedrich blättert. „Übrigens: Mein Kompliment für die ,Parsifal‘-Bühnenorchesterprobe gestern. Ich weiß, ich habe vorher sehr geschimpft mit Ihnen – aber das war wirklich eine prima Leistung.“ Zurück zu „Meistersinger“, großer Schlusschor, Einsatz der Herren. „Hier bei der Stelle, beim Wort ,zerging‘, da müssen Sie aufpassen, wissen Sie aber, nicht wahr? Danke, das war’s.“ Gemurmel setzt ein. „Und jetzt bitte umziehen, die Bühnenprobe heute Mittag findet im Kostüm statt.“ Und die Probe am Abend auch. Festwiese, dritter Akt – im zweiten gibt es ja keine.