Zunächst ging die Behörde jedoch von einem Totschlag aus. In diesem Fall wäre die Tat verjährt gewesen. Inzwischen sieht die Staatsanwaltschaft jedoch das Mordmerkmal der Heimtücke erfüllt. Entscheidend für diese neue Bewertung war nach Angaben der Nebenklageanwälte ein europäischer Haftbefehl gegen den Angeklagten nach beharrlichen Nachforschungen auf der polnischen Seite. Der Haftbefehl habe zur Überprüfung des Falls geführt, erklärte Anwalt Thomas Walther, der einen der Söhne vertritt.
Gericht muss Urkunden bewerten
Der Vorsitzende Richter Bernd Miczajka macht zum Prozessbeginn deutlich, wo die Schwierigkeit 50 Jahre nach der Tat liegt: "Vieles wird auf der Bewertung von Urkunden beruhen." Das Gericht müsse sich ein Bild davon machen, wie verlässlich diese seien.
Ein Berliner Kriminalkommissar, der die alten Akten für die neuen Ermittlungen auf den Tisch bekam, erläutert vor Gericht, wie es zu der Neueinstufung als Mord kam. Zunächst sei man von einem Totschlag ausgegangen, weil das Opfer an dem Tattag in der polnischen Botschaft versucht haben soll, seine Ausreise nach West-Berlin mit Hilfe einer Bombenattrappe zu erzwingen. Zeugen hätten jedoch geschildert, dass der 38-Jährige an jenem 29. März 1974 bereits zwei der drei Kontrollstellen am "Tränenpalast" ungehindert hinter sich gelassen habe, als der Schuss gefallen sei. Der Pole sei sich sicher gewesen, sein Ziel erreicht zu haben. Genau in diesem Augenblick der Arglosigkeit sei der Schuss gefallen.
Augenzeugin: "Dann fiel ein Schuss"
"Der trat hinter ihn, dann fiel ein Schuss", schildert eine damalige Augenzeugin im Prozess. "Ich habe damals gedacht, das ist ein schlechter Film." Die heute 65-Jährige aus Hessen war mit ihrer Schulklasse in Berlin, am Tattag hatten die Zehntklässler Ost-Berlin besucht und wollten zurück in den West-Teil der damals geteilten Stadt. "Hinter mir stand ein Mann mit einer Reisetasche", erinnert sich die Frau. Es seien viele Uniformierte vor Ort gewesen. Der Mann sei vorgezogen worden. Nachdem er seinen Pass zurückbekommen habe, sei er zielgerichtet auf die Unterführung zugegangen und habe sich nicht umgedreht. Plötzlich sei jedoch ein Mann in einem langen Mantel von hinten vorgetreten - und der Schuss sei gefallen.
Der Mann mit der Reisetasche sei zusammengesunken. "Das sehe ich noch bildlich vor mir", so die 65-Jährige. Danach seien sofort die Türen geschlossen worden, eine Frau habe geschrien. "Wir hatten unheimliche Angst", so die Sozialpädagogin. Zurück im Westen informierte der Lehrer die Polizei.
Auszeichnung nach der Tötung
Damals habe es eine erfolglose Anfrage an die Justiz im Osten gegeben, so der Berliner Kommissar. Später kam ein Hinweis aus einer eher ungewöhnlichen Richtung: Ein vom damaligen Minister Erich Mielke unterzeichneter Befehl nannte Stasi-Mitarbeiter, die im Zusammenhang mit der Tötung ausgezeichnet werden sollten. "Das war eine Befehlskette, die von oben nach unten ging mit verschiedenen Namen", so der Kommissar. Der Name des Angeklagten habe "ziemlich weit unten" gestanden. Der heute 80-Jährige bekam demnach eine Bronze-Medaille.
Zuschauer reisen aus Polen zum Prozess
Den Auftakt des Verfahrens verfolgten auch zwei Staatsanwälte aus Polen sowie ein Historiker, der an der Aufarbeitung des Falls beteiligt war. Das Landgericht hat zunächst insgesamt sieben Verhandlungstage geplant. Ein Urteil könnte demnach am 23. Mai gesprochen werden. Der Prozess soll am 4. April mit der Vernehmung einer weiteren Augenzeugin fortgesetzt werden.