1,5 Stunden warten auf den Rettungsdienst

Von Andreas Gewinner
Wenn der Rettungswagen kommt, ist es immer eilig? Nicht immer. Manchmal sind der Anrufer und der Disponent in der Rettungsleitstelle unterschiedlicher Meinung. Foto: Archiv/Ronald Wittek Foto: red

Ein Anrufer alarmiert den Rettungsdienst. Der kommt erst nach eineinhalb Stunden. Läuft in solch einem Fall nicht was schief? Nicht unbedingt. Ein Erklärungsversuch.

 
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Der Fall: Am Donnerstag, 3. November, 14.12 Uhr, wählt ein Senior im Fichtelgebirge die Telefonnummer 112 und landet in der Integrierten Leitstelle (ILS) an der Feuerwache in Bayreuth. Die Ehefrau des Anrufers, 83 Jahre alt, klagt über schlimme Magenschmerzen. Ein Bekannter, der dabei war, sagt: „Das war wirklich schlimm, sie hat sich gekrümmt vor Schmerzen.“ Wenige Monate zuvor hatte die Frau eine Darmkrebsoperation. Der Anrufer – das Paar ist nicht mobil, verfügt über kein Auto – verlangt laut den bei der ILS gespeicherten Gesprächsprotokollen einen „Arzt“. Der Disponent in der ILS trifft nach der Schilderung des Seniors eine Entscheidung: Der Fall ist „sub-akut“, kein Notfall, eine Sache für den Hausarzt, nicht für den Notarzt.

Der Hausarzt ist im Urlaub

Der einzige Hausarzt in der Heimatgemeinde des Ehepaars ist zu dem Zeitpunkt im Urlaub. Auf dem Umweg über ein Callcenter der Kassenärztlichen Vereinigung (KVB) in München (bayernweit einheitliche Rufnummer 116 117) landet der Senior aus dem Fichtelgebirge beim Vertreter des Hausarztes in einer Nachbarstadt, verlangt einen Hausbesuch. Der Arzt, inzwischen ist es 14.24 Uhr, verweigert den Hausbesuch mit Hinweis auf sein volles Wartezimmer, verweist den Anrufer zurück an die Rufnummer 112 und damit wieder die ILS.

Weiterhin kein Notfall

In der ILS bleibt man bei der Einschätzung: kein akuter Notfall. Etwa eine Stunde später, um 15.30 Uhr wird ein Rettungswagen aus Kulmbach ins Fichtelgebirge geschickt. Die Sanitäter halten sich fünf Minuten bei der Frau auf, unternehmen keine Sofortmaßnahmen. Die Frau kann aus eigener Kraft den Wagen besteigen, wird sitzend transportiert ins Klinikum Bayreuth, wo sie nicht als Notfall aufgenommen wird. Ein paar Tage später ist sie wieder zu Hause. In der Zwischenzeit war sie wegen der gleichen Beschwerden erneut im Klinikum.

"Es ist nichts schief gelaufen"

Die ILS: Markus Ruckdeschel, Leiter der ILS, hat den Fall minutiös nachvollzogen, anhand der gespeicherten Gesprächsprotokolle und nach Rücksprache mit dem befassten Mitarbeiter. Sein – im ersten Moment überraschendes – Urteil: „In der Rettungskette ist nichts schief gelaufen.“ Das begründet er auch, aber nicht nur mit der Tatsache, dass alle Beteiligten den konkreten Fall als nicht akut eingestuft hatten: vom Disponenten in der ILS, bei dem der erste Anruf einging, über die Besatzung des Rettungswagens, der schließlich doch kam, bis zum Personal im Klinikum. „Wenn jemand mit dem Rettungswagen ins Krankenhaus kommt, muss das nichts Lebensbedrohendes sein“, erläutert Ruckdeschel, „das kann dann je nach Verfügbarkeit auch mal ein bis zwei Stunden dauern.“

Alternative: Hubschrauber

Der Transport im konkreten Fall sei „reingeschoben“ worden. Dass der Wagen im vorliegenden Fall schließlich aus Kulmbach kam, müsse nicht bedeuten, dass die Wagen im viel näheren Bad Berneck oder Fichtelberg zu dem Zeitpunkt nicht verfügbar waren: „Ich kann wegen einem sub-akuten Fall nicht das ganze Fichtelgebirge entblößen, wenn dann ein echter Notfall kommt“, macht Ruckdeschel deutlich. Es gäbe zwar immer noch den Rettungshubschrauber. Der kommt sogar routinemäßig, wenn im Fichtelgebirge ein Notarzt gebraucht wird, um die Vorgabe „Zwölf Minuten in 80 Prozent“ einzuhalten: Heißt: In 80 Prozent der Notfälle soll ein Notarzt binnen zwölf Minuten beim Patienten sein. Doch was, wenn der fliegende Notarzt gerade im westlichen oder südliche Landkreis unterwegs ist? Um weiße Flecken zu vermeiden, ist es nicht unüblich, dass die ILS Rettungswagen aus ihrer Wache beordert und vorübergehend an einem anderen Punkt in der Region stationiert, weil das in dem Moment der günstigste Punkt für das aktuell abzudeckende Gebiet ist.

Das muss der Patient wissen

Der Patient: Der ideale Patient mit einem gesundheitlichen Problem weiß genau: Muss ich zum Hausarzt? Muss ich gleich ins Krankenhaus? Brauche ich einen Notarzt oder nicht? Im günstigen Fall weiß er auch, wenn er seinen Hausarzt nicht erreicht, dass ihm der Callcenter der KVB (Nummer 116 117) zur Verfügung steht, anstatt gleich in der Rettungsleitstelle anzurufen.

Im Zweifel die 112 wählen

In der Realität weiß der Patient diese Dinge in aller Regel nicht. Weil er es objektiv nicht weiß. Weil die eigenen Beschwerden, Sorge, Angst um sich selbst oder einen nahen Angehörigen seine Urteilsfähigkeit beeinträchtigen. Markus Ruckdeschel weiß das: „Wenn sich jemand nicht sicher ist, ob es ein Notfall ist, dann soll er ruhig die 112 wählen.“ Die Disponenten versuchen dann im Gespräch zu ermitteln, ob es ein Notfall ist. Oder nicht. Ob der Rettungswagen mit oder ohne Blaulicht kommt, mit oder ohne Notarzt. Ob der fährt oder fliegen muss. Oder ob es eben doch ein Fall für den Hausarzt ist. „Es kann passieren, dass mal eine Information unterschiedlich interpretiert wird“, räumt Ruckdeschel ein. In der Rettungskette gebe es verschiedene „Sektoren“ mit „Schnittstellen“. Was an diesen Schnittstellen passiere, werde nachträglich von beiden Seite evaluiert. „Das geschieht ständig“, sagt Ruckdeschel. Im konkreten Fall mit dem Ergebnis: Nichts schief gelaufen.

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