Die Regelhüter ahndeten die Aktion mit einer Fünf-Sekunden-Zeitstrafe. Vettels Manöver wurde als "gefährliche Rückkehr auf die Strecke" eingestuft. In der Endabrechnung hatte er einen Rückstand von 3,658 Sekunden auf Hamilton. "Ich denke, wir haben das Rennen gewonnen. Wir haben die Ziellinie zuerst überquert, auch wenn die Rennkommissare eine andere Sicht haben", sagte Vettel, der bei sich keinen Fehler ausfindig machen konnte. Ferrari auch nicht.
"Es ist ein gutes Zeichen, seine Leidenschaft zu sehen, er ist hungrig", sagte Ferrari-Teamchef Mattia Binotto über seinen uneinsichtigen Star-Piloten. "Wir sind alle hungrig und das wird uns auch in den künftigen Rennen helfen." Abfinden will sich die Scuderia mit der Sanktionierung aber nicht. Deshalb legte sie Binotto zufolge auch Beschwerde ein. "Ferrari sollte sich einen weiteren Protest gut überlegen, denn es war eine Tatsachenentscheidung. Dafür gibt es Regeln, und eben keinen Freispruch", schrieb die "Neue Zürcher Zeitung" und wertete Vettels Fahrmanöver als Verkehrsgefährdung.
Innerhalb von 96 Stunden muss entschieden werden, ob die Causa von Kanada auch vor das Schiedsgericht des Weltverbandes FIA wandern kann. Dem Fachmagazin "Auto, Motor und Sport" zufolge wäre dabei grundlegend, dass Ferrari neue Beweise für Vettels Unschuld vorlegt, wie etwa neue Telemetrie-Daten.
Die Chancen, den aberkannten Sieg am Grünen Tisch zurückzuholen, seien aber gering. "Seb hat einen Fehler gemacht, man muss sich aber auch mal klar machen, dass er mit mehr als 160 km/h unterwegs war", meinte der frühere Weltmeister Jenson Button im TV-Sender Sky und beschrieb den Knackpunkt als reinen Rennvorfall. "Man kann den Wagen nicht einfach anhalten und weg vom Kurs bleiben."
Vettel muss allerdings seine Fehlerquote minimieren. Zuletzt in Bahrain hatte er sich nach einem Zweikampf mit Hamilton gedreht und dann auch noch seinen Frontflügel verloren. Weltmeisterliche Konstanz zeigt bisher nur der Engländer, der mit seinem siebten Kanada-Sieg Michael Schumachers Bestmarke einstellte. "Ich habe mir die Seele aus dem Leib gefahren", bekannte Hamilton, der in der WM-Wertung schon 62 Punkte Vorsprung auf den Drittplatzierten Vettel aufzuweisen hat.
"Ich empfinde kein Mitgefühl, denn in diesem Sport werden keine Gefangenen gemacht. Sie hätten ihn (den Sieg, d. Red.) genauso genommen", sagte Mercedes-Motorsportchef Toto Wolff in Richtung Vettel und Ferrari. "Ich kann aber den Frust eines Rennfahrers verstehen, wenn es gegen ihn läuft." Dass die Strafe vor allem die italienischen Gemüter erhitzte, überraschte Wolff wenig. "Es ist ein bisschen wie bei den Schiedsrichtern im Fußball: Entscheidungen werden immer polarisieren. Am Ende ist es für den Sport aber großartig, dass wir Emotionen haben."
Ferrari und Vettel müssen ihre Gefühle in die richtigen Bahnen lenken. Sonst ist noch vor der Sommerpause ab Anfang August die WM für sie endgültig gelaufen. "Wir sind konkurrenzfähig, es sind noch viele Rennen. In Maranello werden wir noch härter arbeiten, das kann uns nur noch mehr Kraft geben", meinte Binotto. Entscheidend sei es, positiv zu bleiben. "Man sollte auch Sebastian unterstützen, dass er positiv bleibt." Ein Vettel im Wutmodus hilft Ferrari jedenfalls nicht weiter.