Wunsiedler Praxis-Schüler wollen ins Handwerk Eine Chance für die „Handarbeiter“

Es muss nicht immer ein Computer-Arbeitsplatz sein. Mancher Jugendliche will lieber mit den Händen arbeiten. Foto: dpa/Oliver Killig

Nicht jeder Jugendliche hat das Zeug zum Theoretiker. Daher drohen Jahr für Jahr schwächere Schüler durch das Raster zu fallen. Für manch einen ist die P-Klasse der erste Schritt in ein gutes Leben.

 
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Wunsiedel - Montag, 14 Uhr, Klavierunterricht, Dienstag, 17 Uhr, Fußballtraining, Donnerstag, 14 Uhr, Chinesisch-Grundlagen, und um 17 Uhr Leichtathletik. Freitagnachmittag Vorlese-Stunde im Gemeindehaus. Das ist der „Stundenplan“ eines Jungen aus einem Dorf im Landkreis – wohlgemerkt neben dem normalen Schulunterricht. Dazu kommen Nachhilfestunden und das allabendliche Kontrollieren der Hausaufgaben durch die Eltern. Auf der anderen Seite gibt es auch jene Kinder, deren Eltern am Morgen nicht aus dem Bett kommen und um deren Schulerfolg sich niemand kümmert. Das alte Beispiel von der gesellschaftlichen Schere, die immer weiter auseinandergeht, ist aktueller denn je – auch im Fichtelgebirge. Das Team der P-Klasse in der Mittelschule Wunsiedel erlebt dies täglich. „P“ steht hier für „Praxis“.

Lehrer Thomas Braun redet nicht lange um den heißen Brei herum: „Ja, wir nehmen hier Problemfälle aus dem gesamten Landkreis auf, die andernorts keine Chance auf einen regulären Schulabschluss hätten.“ Dazu zählen allerdings keine chronischen Schulverweigerer, Verhaltensauffällige oder Jugendliche mit psychischen Problemen. Diese sind in spezialisierten Einrichtungen besser aufgehoben.

Probleme haben viele der P-Schüler dennoch zuhauf. „In aller Regel besitzen die Kinder null Selbstvertrauen, wenn sie zu uns in die P-Klasse kommen“, sagt Schulsozialpädagogin Christiane Skalitz. Sie hätten meist ihr gesamtes Schulleben lang schlechte Erfahrungen mit dem Lernen gemacht.

Viele haben einfach Pech. Sie sind ganz normal begabt, müssen aber ihren Alltag weitgehend alleine bestreiten und mitansehen, wie die Eltern unter ihrer eigenen Situation in Armut und Perspektivlosigkeit leiden. Sie müssen alleine alle Untiefen des Unterrichts umschiffen und müssen sich oft genug selbst motivieren, am Morgen aufzustehen oder nachmittags die Hausaufgaben zu erledigen – zu viel für ein normales Kind.

Schulleiter Stefan Müller will nicht akzeptieren, dass Jahr für Jahr eine ganze Reihe von Schülern die Schulen schnurstracks in ein Leben am Rande der Gesellschaft verlässt. „Mein Gott, es darf doch nicht sein, dass einerseits Metzger, Bäcker und viele andere Handwerker klagen, sie fänden keine Lehrlinge, und dann lassen wir das Potenzial dieser Jugendlichen links liegen.“ Daher setzt er sich an seiner Schule für die Schüler ein, die bisher weniger Glück im Leben hatten. Mit Erfolg. Dieses Jahr haben immerhin neun von 14 Schülern eine Lehrstelle gefunden. „Ich glaube nicht, dass sie dies in einer regulären Mittelschulklasse geschafft hätten.“ Es gebe eben junge Leute, die einfach nicht dafür gemacht seien, im 45-Minuten-Takt theoretischem Unterricht zu folgen. „Sie wollen raus, etwas mit ihren Händen machen. Wenn diese Mädchen und Jungen auf einem Bagger sitzen und arbeiten dürften, dann wären sie glücklich. Häufig sind gerade diese jungen Leute für ein etwas weniger theorielastiges Handwerke ideal.“

Manch einer der Absolventen der P-Klasse (diese gibt es seit 2005) ist sogar in einem der als anspruchsvoll geltenden Ausbildungsberufe seinen Weg gegangen. „Ja, wir haben auch schon Schüler, die eine Kfz-Mechatroniker-Lehre abschlossen oder heute sogar einen Meisterbrief in Händen halten“, sagt Müller.

Dass die Praxis-Klasse dennoch keine Erfolgsgarantie bieten kann, müssen einige Schüler erfahren. „Als ich einem Jungen sagen musste, dass seine Noten nicht für einen Abschluss (Anmerkung: „Theorieentlasteter Mittelschulabschluss) reichen, hat sich prompt sein Vater gemeldet“, berichtet Thomas Bauer. Zuvor hat der Lehrer monatelang versucht, ihn zu erreichen – vergeblich. „Ich wollte ihn bitten, sich darum zu kümmern, dass sein Sohn regelmäßig den Unterricht besucht. Er hat auf Briefe, auf Mails oder auf Anrufe nie reagiert. Erst, als es zu spät war. In derartigen Fällen sind auch wir machtlos.“

Elternarbeit ist ein wichtiger Teil von Sozialarbeiterin Christiane Skalitz’ Aufgaben. „Natürlich spreche ich mit den Müttern und Vätern, um sie zu unterstützen.“ Allerdings: Nicht alle Eltern leben in schwierigen Verhältnissen und kümmern sich kaum um ihre Kinder. Zunächst muss sie aber die Schüler in die Lage zu versetzen, von ihren Heimatorten nach Wunsiedel zum Unterricht zu kommen. „Fast niemand ist in der Lage, einen Busfahrplan zu lesen.“ Viele Lehrer können sich gar nicht vorstellen, wie manche Kinder auch hier in der Region leben müssen.

Für manche Schüler ist die P-Klasse wie eine Familie. Endlich können sie zeigen, was in ihnen steckt. Endlich macht Unterricht auch mal Spaß. Und endlich ist nicht nur Theorie wichtig. Obwohl diese nicht zu kurz kommt. Thomas Bauer packt in das eine Schuljahr die wichtigsten Inhalte aus den Jahrgangsstufen fünf bis acht. „Wir fangen bei den Grundrechenarten an und hören mit Pythagoras auf“, nennt er etwa das Programm in Mathematik. Mathematik, Deutsch, Ethik, Sport, ein Sammelfach aus Geschichte sowie Sozialkunde und weitere gesellschaftskundliche Inhalte zählen zum Lehrplan.

Am wichtigsten aber ist die Praxis. Einmal in der Woche gibt es den sogenannten Praxistag. Hier lernen die Schüler die Grundbegriffe der EDV bis hin zur Powerpointpräsentation, arbeiten im Werkraum oder stehen in der Schulküche am Herd. Zudem sind sieben Wochen Praktikum Pflicht. „Hier können sie zeigen, was in ihnen steckt. Wir wollen, dass die Schüler am Ende eine Lehrstelle finden.“ Daher gehören auch Themen wie Bewerbungstraining oder „Lernen lernen“ zum Schulalltag. Letztere übernimmt Sozialpädagogin Christiane Skalitz.

Die pädagogische „Manpower“ der P-Klasse hält Schulleiter Stefan Müller für ideal. „Wir haben eine kleine Klasse mit einem Klassenlehrer und einer Sozialpädagogin, ohne die es schlicht nicht funktionieren würde.

Sorgen bereitet Müller die gesellschaftliche Kluft. „Seit 2005 sind die Hälfte aller Mittelschulen in Oberfranken geschlossen worden. Das muss man sich vor Augen halten: Wer soll denn künftig all die Arbeit im Handwerk erledigen, wenn niemand mehr mit den Händen sein Geld verdienen will? Der Gesellschaft muss klar werden, dass sie nicht nur Studierte benötigt, sondern ebenso gute Handwerker.“ Die meisten der P-Schüler wollen genau dies: Handwerker werden.

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