Wohnen, wo einst der Richter waltete

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Wie viele Menschen dieses über 400 Jahre alte Gebäude schon gesehen hat. Die Sänger des Kirchenchores bei den Proben. Alte Menschen, die auf ihr Lebensende warten. Erholungsbedürftige Rüstungsarbeiter im Urlaub. Bürger, die Steuer- und Rechtsgeschäfte erledigen mussten. Oder vor den Amtsrichter zitiert wurden. Heute gehört eine Häuserhälfte dem Zahnarzt Herbert Weigel. 

 
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Das Doppelhaus im Oberen Markt war von 1856 bis 1929 Sitz des Thurnauer Amtsgerichts. Weigel bewohnt die Nummer 9 mit seiner Frau Claudia und Sohn Nicolai. Das Gebäude hat er von der evangelischen Kirchengemeinde gekauft. In deren früherem Gemeindehaus lebt er nun seit dem Jahr 2003.

Einmalige Atmosphäre

Bereut hat er es noch nicht. "Wo hast du sonst so eine Atmosphäre?", fragt Weigel, der sich wohl fühlt in den alten Räumen. Vieles renovierte er nach dem Einzug eigenhändig, erzählt er am hölzernen Esstisch seiner Wohnküche sitzend. "Das Gebäude war in einem relativ guten Zustand." Trotzdem mussten die Wände und Decken tapeziert und gestrichen werden. Die alten Türstöcke und Türen ließ er abbeizen, die Sanitäranlagen erneuern, die Holzfenster austauschen. Beim Renovieren entdeckte er Reste von Deckenmalereien, die aus der Zeit des Jugendstils stammen könnten. Er verzichtete jedoch darauf, sie freizulegen.

Wandschrank für Gebetsbücher

Im hinteren Teil des Wohnzimmers ist noch ein rot überstrichener Wandschrank zu erkennen. "Darin waren früher die Gebetsbücher", sagt Weigel lachend. Der 64-Jährige engagierte sich im Kirchenvorstand und in der kirchlichen Jugendarbeit. Aus dieser Zeit kennt er die hohen Räume, in denen er schon über zehn Jahre wohnt. 220 Quadratmeter Wohnfläche, auf der sich Kater Flint nach Herzenslust austoben darf.

Ohne Keller, aber mit Terrassengarten

Als Weigel in das Haus mit begrüntem Hinterhof und Terrassengarten einzog, erlebte er noch andere Überraschungen. "Das Haus besitzt keinen Keller", erzählt er und vermutet, dass er verschlossen oder bei einem der Umbauten im Laufe der Jahrhunderte verschüttet worden ist. Einige Fliesen im Flur des Erdgeschoss sind aber locker. Darunter könnte sich ein Hohlraum verbergen. "Vielleicht diente es als Sickergrube der wurde mit Bauschutt aufgefüllt." Eine Zisterne war auch nicht zu finden. Weigel hätte sie gerne zum Gartengießen genutzt.

Auf den Spuren der Hausgeschichte

Denn die Geschichte des Hauses geht bis ins 16. Jahrhundert zurück. Weigel, gebürtiger Bayreuther, hat darüber selbst im Gemeindearchiv und bei Ortsgeschichtekennern Nachforschungen angestellt. So war es fast 100 Jahre im Besitz der Famile Reütter. Ab 1699 gehörte es Conrad Greiff. Von 1747 bis 1811 besaßen die Schuhmacher Hausdörfer das Gebäude, bis es an die Gräflich Giechschen Schlossherren ging. In ihrem Eigentum war bereits das Nebengebäude, von dem noch ein alter Torbogen erhalten ist. Ab 1856 beherbergte das Gebäude das Königlich Bayerische Land- und Amtsgericht sowie das Rentamt. Beides war zuvor in der Kemenate des Schlosses und im Oberen Markt 2 untergebracht.

Zahnarztpraxis in historischem Baudenkmal

Zu diesem sanierten, denkmalgeschützten Gebäude hat Weigel ebenfalls einen persönlichen Bezug. Denn darin sind die Räume der Zahnarztpraxis untergebracht, die er sich noch mit Sohn Moritz teilt. Als Finanzamt und Gericht ausgezogen waren, wurde das Baudenkmal mit der neugotischen Fassade aus dem 16./17. Jahrhundert die Thurnauer Polizeistation. Im Jahr 1961 wurde sie jedoch aufgelöst.

Genau geregelte Amtsgeschäfte

Das Doppelhaus im Oberen Markt 9 und 7 wurde auf den Fundamenten des sogenannten Teicherschen Hauses errichtet. Dem Thurnauer Amtsgerichtsbezirk gehörten damals 24 Gemeinden mit rund 9000 Einwohnern an. Über 20 Beamtenfamilien hatten ihren Wohnsitz in Thurnau, berichtet Lokalgeschichtekenner Adolf Häußinger. Rechtsstreitigkeiten unter Bürgern behandelte der Oberamtsrichter  am Samstag, Strafsachen am letzten Donnerstag und Forstrügen am letzten Mittwoch des Monats. Zum Gericht gehörte ein Gefängnis, das im Volksmund Fronveste genannt wurde.

Bürger wehrten sich gegen Schließung

Dass das Gericht im Zuge einer Justizreform aufgelöst werden sollte, wurde 1924 bekannt und rief einen heftigen Proteststurm hervor. Dennoch waren der Verlust des Amtsgerichts samt Notariat und Grundbuchamt ab 1. Juli 1929 nicht aufzuhalten. In den 30er und 40er Jahren bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs nutzte der Deutsche Frauenarbeitsdienst das Gebäude. Auf einer Schwarz-Weiß-Fotografie trägt es den Schriftzug "Führerschule der Gruppe Bayerische Ostmark". Weigel besitzt eine Reproduktion davon, weiß jedoch nicht, aus welchem Jahr die Aufnahme stammt.  Eine andere Fotografie zeigt eine Gruppe Männer jeden Alters in Arbeitskleidung und einige wenige Frauen im Garten hinter dem Haus. "Das waren wohl Arbeiter", sagt Weigel, ohne deren Herkunft genauer zu kennen.

Verwilderten Garten neuangelegt

In den Garten gelangt man über das Obergeschoss. Er ist 250 Quadratmeter groß - und war wegen des Zugangs nicht ganz einfach anzulegen. "Er war verwildert und alles war voller Brombeergestrüpp", erinnert sich Weigel. Um nicht durchs Treppenhaus zu müssen, wurden die Materialien mit einer Seilwinde von der Sandsteinterasse nach oben befördert.

Immer irgendwie im Dienst

Als einziges Manko des Gebäudes fällt dem Zahnarzt die Verkehrslage ein. Denn die über das Pflaster rollenden Fahrzeuge hört man überall im Haus. Weil alle Wohnräume in Richtung Straße ausgerichtet sind. Übrigens hat er von da aus stets seine Praxis auf der anderen Straßenseite im Blick. "Ich bin also immer mit einem Fuß auf der Arbeit", sagt er schmunzelnd. "Selbst wenn ich nicht im Dienst bin, weiß jeder, wo meine Haustürklingel ist."

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