Wohnen in der Alten Schule

Von Thorsten Gütling
Der frühere Pausenhof ist heute Garten. Das Klassenzimmer ein Atelier. Der Künstler Fritz Föttinger wohnt in der Alten Schule Obernsees. Foto: Ronald Wittek Foto: red

Vor 50 Jahren war eine Tafel. Daneben ein gefürchteter Schrank mit Stöcken. Heute sind Farben und Formen. Wo der frühere Dorflehrer Fritz Föttinger einst unterrichtete, malt er heute Bilder. Föttinger wohnt in der Alten Schule Obernsees. Die Kinder von damals sind lange weg - und doch allgegenwärtig.

 
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Das Spalier ist noch das selbe. Uralt, nur neu gestrichen. Die, die früher schon als Kinder daran vorbeigingen, sind mittlerweile Omas und Opas. Sie erzählen, dass sie durch dieses Spalier zu Dieben geworden sind. Auf dem Weg zur Alten Schule, kurz vor der Tür, haben sie von den Weintrauben des Dorflehrers genascht. Der Dorflehrer, das war der Künstler Fritz Föttinger. Heute ist er 76 Jahre alt. Die Schüler sind lange weg, Föttinger ist immer noch da. Er hat seine frühere Schule gekauft. Und mit ihr jede Menge Erinnerungen.

Es ist in die Jahre gekommen. Und macht immer noch etwas her. Ein auffälliges Walmdach. Darauf ein Glockenturm und eine Kupferspitze. "Wie ein Kirchturm oder ein Schloss", sagt Föttinger. Eine Glocke gab es aber nie. Föttinger vermutet: Wahrscheinlich ist sie vor dem Krieg nicht mehr fertig geworden. Andernorts wurden Glocken damals eingeschmolzen, um daraus Granaten zu gießen. Wir schreiben das Jahr 1939. Die ersten Lehrer sind Nationalsozialisten. Autoritäre Beamte. Neben der Tafel steht ein Schrank. Darin lagern jede Menge Bambusstöcke. Wer nicht spurt, bekommt Prügel.

1963 schreitet Fritz Föttinger erstmals das Klassenzimmer ab. 53 Schüler wollen unterrichtet werden. In Deutsch, Mathematik, Sachkunde, Religion und Werken. Föttinger ist der einzige Lehrer. Es gibt nur ein Klassenzimmer. Fünfte bis achte Klasse sitzen beisammen. "Ich war der erste Lehrer, vor dem die Schüler keine Angst mehr hatten", sagt Föttinger.

Die Tafel und der Schrank mit den Stöcken sind lange weg. Heute stehen dort Staffeleien und Werkbänke. Farbkleckse zieren den Boden. Überall hängen, stehen, liegen Bilder und Skulpturen.

Der Lehrer war damals eine öffentliche Person. Wie der Pfarrer und der Bürgermeister. Privatsphäre gab es kaum. Wenn der Dorflehrer Föttinger einmal verschlief, schlich er mit Pantoffeln von der Lehrerwohnung in den Klassenraum. Nur ein Flur und zwei Türen trennten das eine vom anderen. Sich nicht ordentlich angezogen zu haben, bereute Föttinger sofort. "Im Winter war es eiskalt. Hier drin hat man gefroren." Winzige Öfen, die mit Briketts geheizt wurden, schafften es kaum, die großen und spärlich eingerichteten Räume aufzuheizen. Der Wind pfiff durch die undichten Fenster. Warmes Wasser gab es nicht. Auch nicht in der Lehrerwohnung.

Mittlerweile gibt es eine Heizung. Föttinger hat die Räume verkleinert. Hat Wände eingezogen. Die zugigen Fenster abgedichtet. Aber das meiste ist noch so wie damals. Türen, Fenster, Fliesen, Treppengeländer, Holzböden,  Fensterläden. Alles 76 Jahre alt. "Optik geht bei uns vor Energiesparen", sagt Inge Föttinger, Fritz Föttingers Frau.

Nur neun Jahre unterrichtet Föttinger in Obernsees. 1972 wird die Schule geschlossen. Der Dorflehrer muss nach Hollfeld, später nach Gesees. In der Lehrerwohnung darf er bleiben. In das Klassenzimmer zieht ein Ledermodengeschäft. Tische und Bänke werden entfernt. Als Föttinger das Haus vier Jahre später für 90000 Mark kauft, findet er im Dachboden Urkunden, Zeugnisse und einen alten Bock aus dem Sportunterricht.

"Dieses Haus wirkt", sagt Föttinger. Wer wissen will wie, der muss sich seine Bilder ansehen. Seine Figuren haben kindliche Gesichter. Unvoreingenommen, neugierig, unschuldig. "Manche sagen, ich male Kindermenschen", sagt Föttinger. "Und dieses Haus ist wohl der Grund dafür.

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