Grass, der Ankläger
Grass konnte Adenauer ohne Widerspruch anklagen, weil über seine eigene Vergangenheit in der SS noch nichts bekannt geworden war. Bis zum Skandal sollte es noch einige Jahrzehnte dauern, in denen Grass sich den Ruf einer moralischen Instanz, aber auch eines Rechthabers erwarb, der gern über andere zu Gericht saß. Der Ort des Dichters sei in der Gesellschaft, nicht in einem Traumreich.
Günter Grass wird diese Meinung nicht geteilt haben. Er war von den politischen Möglichkeiten des Dichters überzeugt. Und auch von der geistigen Freiheit seines Berufsstandes. In den 60er Jahren, als sich die politischen Auseinandersetzungen in Deutschland verschärften, kritisierte er die Scharfmacher von „Bild“ und „Welt“, ebenso aber auch deren Lieblingsgegner, die linken Studenten. Grass schrieb 1968, die Apo-Texte seien oft „mit derselben autoritären Tinte“ geschrieben wie die Artikel von Springers Anheizern. Wobei man nicht ausschließen darf, dass sich Grass von seiner Lust am Provozieren treiben ließ. Grass liebte den Angriff, und war er auch so plump eingeleitet wie in seinem späten antiisraelischen Hasstext „Was gesagt werden muss“. Ja, hassen konnte er, und poltern. „Sonst ist mir von Bayreuth und dem widerlichen Getue des neureichen Pöbels im Umfeld der monströsen Kultscheune nur den Lachnerv reizender Ekel geblieben.“ Schreibt er in „Das Häuten der Zwiebel“.
Das Treffen von Waischenfeld
Immerhin, die Region Bayreuth hat dem Literaten einen heimlichen Platz in der Literaturgeschichte zu verdanken – durch das „Treffen in Telgte“. Die Geschichte spielt woanders, im 17. Jahrhundert, und in der Vorstellung von Grass, natürlich. Aber inspiriert ist sie durch Waischenfeld. Dort war die „Gruppe 47“ 1967 in der Pulvermühle zu einem Treffen zusammengekommen, das im Streit enden sollte. In der Abgeschiedenheit wurden die Dichter von Studenten gestört, die den Dichtern politische Impotenz unterstellten. „Ihre Hintermänner sitzen im Saal, Freunde von mir, die sich aus allzu harmlosen Formalisten in lautstarke Ideologen verwandelt haben und nun Revolutionäre spielen“, erinnerte sich Hans Werner Richter, der Motor der „Gruppe 47“. Günter Grass trat den Wortführern entgegen, die Brüche waren nicht mehr zu heilen.
Ein paar Jahre nach dem Treffen brachte Günter Grass den besagten Roman heraus. Es geht darin um eine Zusammenkunft von Dichtern, die Deutschland aus der Zerrüttung des Dreißigjährigen Krieges retten wollen. Die barocken Literaten sind nach den Autoren der Waischenfelder Runde gezeichnet. Der Gestalt des Grimmelshausen verlieh Grass Züge von sich.
Und er stellte den Dichtern und ihrem so fruchtlosen Treffen ein überraschend zartes Zeugnis aus: Mit der Macht der geschriebenen Wörter, „welche nach Maßen der Kunst zu setzen einzig die Dichter begnadet seien“, hätten sie der Ohnmacht ein leises „Dennoch“ entgegengesetzt.
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