Wie Bayreuth aufs Rad stieg

Von Michael Weiser

Vor 200 Jahren stieg Freiherr Karl von Drais auf sein Laufrad, welches man alsbald nach seinem Erfinder "Draisine" nannte. Eine Erfolgsgeschichte, die zunächst nicht abzusehen war. Heute ist das Rad als ferner Nachfahr der Drasine in aller Welt ein Massenverkehrsmittel. In Bayreuth begann die Geschichte des Rads in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts.

Ein Hund war er schon, der Hensel. Setzt sich auf sein wackeliges Hochrad, fährt von Bayreuth nach Kaiserslautern und wieder retour. Ausgerechnet am heimatlichen Matzenberg, zwischen Eckersdorf und Bayreuth, steigt der Pionier unsanft von seinem Stahlross ab – aber der Sturz kann weder den geschäftstüchtigen Bayreuther nachhaltig bremsen, noch den Siegeszug seines neuen Gefährts verhindern. Hensel sei Dank: Seit den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts ist Radfahren ein Thema auch in Bayreuth.

Nach der Werbung weiterlesen

Damit stand Bayreuth freilich nicht an der Spitze der Entwicklung. Seit 1860 gab es in Europa erste Radrennen, die Massen strömten zu den Veranstaltungen, die eine Verheißung der modernen Welt zu erfüllen schienen: Der Mensch, der mit der Maschine eins wird. Der Mensch, der mit billigsten Mitteln riesige Räume aus eigener Kraft durchmisst.

Ein Rennen über 1200 Kilometer

Nicht von ungefähr führte eines der ersten großen Radrennen von Paris nach Brest und zurück: 1200 Kilometer! Heute wäre das die Jahresbilanz eines mäßig ehrgeizigen Freizeitradlers. Damals schien dem Menschen alles möglich. Sogar ein Sieg über die Pferdestärke: Zehntausende sahen 1895 auf der Münchner Theresienwiese den Erfolg des Radrennfahrers Josef Fischer gegen den berittenen Sohn von Buffalo Bill. Ein spektakulärer Triumph des modernen Menschen über die Tradition. Eben jener Fischer war 1896 übrigens auch der erste Sieger des legendären Rennens Paris – Roubaix.

In Bayreuth ließ man’s etwas ruhiger angehen. Und mit viel Papierkram: Im Stadtarchiv liegen dicke Akten, in denen Regelungen und andere Dokumente ruhen. Zum richtigen Gebrauch der Fahrradglocke, zur Erteilung von Fahrradlizenzen, zum richtigen Tempo – nicht schneller als ein Fuhrwerk -, mit Anmeldungen von neuen Vereinen zur Pflege des Radfahrens. Allein die Menge des Papiers legt den Verdacht nahe, dass man vor 130 Jahren intensiver über das Radfahren in Bayreuth nachdachte als heutzutage, da noch immer das Auto fast uneingeschränkte Herrschaft über die Stadt ausübt.

Hensel, der Pionier

Einer von den Männern, die das Radfahren in Bayreuth vorantrieben, war der eingangs erwähnte Conrad Hensel. Ein überragender Techniker, wurde er zum Nähmaschinen-Riesen. Und ab den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts zum begeisterten Velozipedisten und Radhändler an der Maxstraße. Seine Frau Margarete war vermutlich die erste Frau, die in Bayreuth ein Rad lenkte. Eine Sensation, ein Skandal: Frauen in Röcken auf Rädern – da lief mancher Tugendbürger zur Höchstform auf. Radfahrende Frauen jener Zeit berichten von anzüglichen Bemerkungen und unflätigen Beschimpfungen. Ärzte warnten vor gesundheitlichen Gefahren.

Höchsten sieben Stunden Übung

Was Conrad Hensel zu entkräften suchte. Er bot 1896 die ersten Radkurse für Frauen an. Und behauptete, das Radfahren bewirke eine sanfte Massage des Unterleibes, eine Wohltat vor allem für nervöse Frauen. Dieses Argument wiederum erinnert uns daran, dass sich auch der Vibrator in jener Zeit durchsetzte – zur Behandlung „hysterischer“ Frauen. Hensel machte Mut: Schon nach fünf bis sieben Stunden Übung sei auch eine zaghafte Dame in der Lage, allein eine Landstraße zu befahren.

Sünder werden verpetzt

Wer heute mit Radfahrern den Begriff „Rambo“ verbindet, wird ebenfalls in diesen Bayreuther Akten fündig. Schüler zeigen einander bei der Polizei an, wegen Fahrens ohne Licht und ohne Fahrradkarte. Denunzieren war einfach: In Bayreuth musste man mit einem Nummernschild registriert sein. Auch sonst bremste die Obrigkeit die Radfahrer, wo sie es für nötig hielt: Zu Markttagen war das Befahren der Marktstraße verboten, an Festspieltagen war der Radverkehr zwischen Bahnhof, Wilhelmsplatz und Festspielhaus ab Mittag untersagt.

Ankunft der Stahlrossreiter

Die Bayreuther waren gleichermaßen fasziniert und misstrauisch. Das Bayreuther Tagblatt berichtet vom Gauverbandstag der oberfränkischen Radlervereine 1885: „Mit ruhiger Sicherheit und tadelloser Haltung lenkten die 30 Stahlrossreiter ihre verschiedenartig gebauten Fahrzeuge durch das dicht gedrängte Spalier der Zuschauer in den Straßen der Stadt. Außerhalb wurde dann ein flotteres Tempo angenommen, und pfeilgeschwind schossen die einzelnen Fahrer dahin.“ Wenige Jahre später rät das nämliche Blatt zur rabiaten Selbsthilfe gegen die pfeilgeschwinden Pedalritter: indem man „diese Art von Fahrern packt, vom Rade hebt und zur Anzeige bringt“.

Radfahren wurde dennoch bald zum gesellschaftlichen Ereignis. Der erste Verein "Veloziped" gründete sich 1882, es radelten Reiche, es radelten Arme, zu den ersten Jüngern der neuen Mobilität zählte sich ein Neffe von Jean Paul. Es folgten weitere Vereine. 1899 gründete sich der Arbeiterverein „Pfeil“ – 30 Jahre später sollte sich jeder zweite Arbeiter auf dem Rad auf den Weg zur Werkbank begeben. Billig war das neue Gerät, praktisch und gut. Umweltfreundlich noch dazu, dieses Argument aber war damals nicht so wichtig.

Ein ideales Verkehrsmittel für die moderne Stadt

Heute, da sich die Bayreuther in Blechlawinen an Baustellen vorbeiquälen, in der Sonnenglut schwitzend, würde jenes Argument stärker zählen denn je. Es bräuchte halt gute Radwege. Daran aber hapert es gewaltig. Über hundert Jahre nach Conrad Hensel wäre das alte Rad für die Stadt nach wie vor das Verkehrsmittel der Zukunft. Das Bayreuth der Gegenwart hat das noch immer nicht verstanden.

An der Zukunft des Rades in Bayreuth schrauben derweil andere. Tüftler wie Kurt Hoyler etwa, in dessen Rädern die Erfindung des Freiherrn Karl von Drais ungeahnte Veredelung erfährt. Rund 25 Kilogramm wog dessen erstes Laufrad. Auf unter vier Kilo kommt Hoylers leichtestes Rennrad.