Wenn der Sachs zum Diktator wird

Gert-Dieter Meier

James Rutherford ist nicht nur der erste Engländer, sondern auch einer der jüngsten Sänger aller Zeiten, der den Sachs im Meistersinger singt.

 
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Eigentlich war alles ganz anders geplant. James Rutherford (39) wollte sich bei der Vorbereitung für seine zweite Spielzeit als Sachs bei den Bayreuther Festspielen besonders viel Zeit nehmen. In aller Ruhe anreisen, relaxen, sich auf die Arbeit konzentrieren. Aber dann kam dieser Anruf aus Glyndebourne. Ob er nicht einspringen könne als Sachs – Notfall! Kurzerhand warf er alle Pläne übern Haufen – und stand am nächsten Abend auf der Bühne. Ein interessanter Abend, nicht nur „park an bark“ (so bezeichnen die Engländer jenen Zustand, wenn Sänger nur an die Rampe treten und singen, ohne wirklich zu spielen), sondern eine richtig gute Inszenierung.

Sein Lohn: reicher Beifall. Sein Problem: Er musste anderntags in Bayreuth sein – zur ersten Probe der Saison. Das wollte er unbedingt – und so schaffte er es: 22 Uhr, nach der Vorstellung in Glyndebourne, rein ins Auto, Fahrt bis Dover; durch den Euro-Tunnel bis Calais. Von dort direkt nach Bayreuth. Kein Schlaf, kein längerer Halt. Immer nur fahren. Um 12 Uhr war Probe. Um 11.58 Uhr stand Rutherford auf der Matte. „Glücklich, aber hundemüde“, sei er gewesen, sagt er nach der Probe.

Dernière

In Katharina Wagners „Meistersinger“-Inszenierung, die am 24. August nach fünf Jahren ihre Dernière erfährt und danach planmäßig vom Spielplan abgesetzt wird, ist Spielen Trumpf. Wobei die Regisseurin die großen, übertriebenen Operngesten nicht eben gerne sieht: „Sie will Andeutungen, kleine Bewegungen, statt überdrehter Gesten. Und das wirkt.“ Rutherford mag diesen Sachs. Natürlich der Partie wegen, aber auch die Gestaltung der Rolle behagt ihm. Mit einer Ausnahme: „Ich hasse Rauchen. Und ausgerechnet das muss ich hier tun“, lacht er verzweifelt – „aber ich habe das auf drei Zigaretten runtergefahren. Außerdem halte ich es wie Bill Clinton, der mal sagte, er habe zwar ein-, zweimal mit Marihuana experimentiert, aber nicht inhaliert ...“

Die Wandlung, die der Sachs in dieser Inszenierung durchmacht – vom jungen Wilden zum Spießbürger mit diktatorischen Zügen – empfindet er als „clevere Idee“ – vor allem, weil sie aufgehe. Rutherford: „Jede andere Inszenierung, die ich gesehen habe, hatte mit dem Schluss – und insbesondere mit der Haltung des Sachs – ihre Probleme. Katharina wandelt ihn zum Diktator. Wir haben uns, zur Vorbereitung, auch Dokumente aus der Nazizeit angeschaut – Aufnahmen mit Hitler und Goebbels. Um ein Gespür dafür zu bekommen, wie die sich bewegt, wie die gesprochen haben.“

Ob es für ihn, als Engländer, nicht etwas ungewöhnlich sei, eine Figur auf die Bühne zu bringen, in der viel Hitler steckt? Rutherford nickt. Im vergangenen Jahr habe er mit seinem neuseeländischen Sängerkollegen Simon O’Neill in alten Heftchen geblättert, die Bayreuth mit Nazifahnen und Hitler am Festspielhaus zeigten: „Da wurde uns bewusst, was für ein geschichtsträchtiger Ort das hier ist“, sagt Rutherford, der als erster Engländer diese Partie in Bayreuth singt. Warum? „Offensichtlich wollte Wolfgang Wagner für den Schuster immer deutsche Sänger haben.“

Sachse sind dünn gesät

Rutherford gilt als einer der jüngsten Sachse aller Zeiten. Belastet ihn das? „Nein, nicht wirklich. Es gibt eben nicht wahnsinnig viele auf dem Markt, die diese Partie singen. Und ich hatte das Glück, dass ich zum einen mit meinem ersten Sachs in Graz sehr erfolgreich war, zum anderen suchte Katharina Wagner einen Typ, der speziell in ihre Inszenierung passt. Ich war zur richtigen Zeit am richtigen Platz. Und plötzlich veränderte sich meine Karriere.“ Sachs – die Rolle seines Lebens? „Nein“, sagt er, „man darf den nicht zu oft singen“, müsse vorsichtig sein. Gerade am Anfang einer Karriere sei man geneigt, sich zu übernehmen: „Ich möchte ihn in den nächsten drei, vier Jahren am liebsten nur bei einer Inszenierung pro Jahr singen – an schönen, interessanten Plätzen.“

Immer höher, immer lauter

Rutherford hat sich auf diese Partie gründlich vorbereitet. Natürlich sängerisch, aber auch aus eigenem Interesse heraus: „Ich habe am Anfang nichts über diese Oper gewusst. Jetzt habe ich 17 oder 18 ,Meistersinger‘-Aufnahmen im Schrank, habe im Internet recherchiert, viel gelesen. Heute weiß ich eine ganze Menge über die Rolle und die, die sie hier gesungen haben.“ Dieses Zuhören habe ihm im Übrigen auch geholfen, die Sprache zu verbessern. Wen er als persönlichen Favoriten der großen Sachs-Garde sieht? Der Südafrikaner Norman Bailey kommt ihm als Erster in den Sinn ...

Was diese Partie so anstrengend, so besonders macht? Die letzte halbe Stunde sei mörderisch, sagt Rutherford: „Immer höher, immer lauter – das geht an die Substanz.“ Wobei er noch das Glück habe, dass seine Stimme dazu tendiere, immer höher zu werden, je später der Abend wird. Rutherford weiter: „Ich habe Liveaufnahmen mit Weltklassesängern zu Hause, die mit ihren großen, tiefen Stimmen in dieser Phase richtiggehend abstürzen. Deshalb meine ich auch, dass ein Bariton sich mit dieser Partie  leichtertut. Weil  man am Ende der Partie einfach die Höhe braucht.“

Rutherford ist an einem Punkt angelangt, dass ihm die Angebote selbst größter Häuser ins Haus flattern – unter anderem auch für Wotan. Ja, räumt er ein, er arbeite an dieser Partie. Aber er fühle sich noch längst nicht reif genug, sie auf die Bühne zu bringen: „Ich nehme mir meine Zeit – und muss nichts überstürzen. Das ist ein wunderbares Gefühl.“

"Wie ein Kind im Süßwarenladen"

Sein größtes Glück aber ist, den Sachs hier singen zu dürfen: „Wenn du ein großer Wagnersänger werden willst, musst du hier gewesen sein. Jeder will hier auftreten. Deshalb kommen ja auch Domingo, Jonas Kaufmann und all die anderen hierher.“ Deshalb habe er sich im vergangenen Jahr, als er erstmals den Sachs in Bayreuth sang, „wie ein Kind im Süßwarenladen“ gefühlt, als er plötzlich, in der Kantine, all die Stars persönlich kennenlernen durfte, die er bis dahin nur von CDs her kannte. Rutherford: „Und das Schönste ist: Alle, die ich getroffen habe, sind ganz normal und nett. Da geht es nicht um Starkult oder die Pflege des eigenen Egos, sondern um die Sache. Um Wagner.“

Sängerkrise? Rutherford vermag sie nicht zu erkennen: „Es sind wunderbare Stimmen hier. Ich denke nicht, dass die Stimmen heute schlechter sind als vor zehn, 30 oder 50 Jahren. Nur die Wahrnehmung hat sich verändert.“ Früher standen die Sänger im Blickfeld. Dann kam die Ära der Dirigenten, der Regisseure. Und heute schreibe man „das Zeitalter der Verwalter. Sie haben das Geld – und die Fäden in der Hand.“

Rutherford hat, bevor er sich dem Gesang widmete, Theologie studiert. Ob er es jemals bereut habe, diesen Weg zu verlassen? „Mir hat das Studium viel Freude gemacht. Und ich hatte viel Zeit, mich nebenher mit anderen Dingen zu befassen – unter anderem mit dem Singen.“ Das entdeckte er dann als große Leidenschaft. Und begann ein zweites Studium. Kaum verwunderlich eigentlich, wie er findet, „schließlich war bei uns Musik immer ein wichtiger Teil der Familie“.

Ob er das in seiner Familie – Frau, zwei Kinder – genauso halte? „Natürlich wird bei uns gesungen. Unsere sechsjährige Tochter Susanna spielt auch leidenschaftlich gern. Aber sie kann nicht wirklich stillsitzen. Deshalb hält sie eine Wagneroper nicht aus. Aber mein Sohn war bei den ,Meistersingern‘ in Graz dabei – in den Pausen ist er dann zu MacDonald’s gegangen.“ Eines haben die beiden Kinder doch getan: Sie haben sich ein Buch gekrallt und irgendwelche frei erfundenen Wörter gesungen. Weil das in ihrer Vorstellung genau dem entsprach, was Papa immer macht, wenn er zu Hause Wagner in deutscher Sprache singt.

Immer nur Proben

Von Bayreuth hat Rutherford noch nicht viel gesehen: „Wenn du Sachs machst, dann probst du morgens und abends. Dazwischen musst du dann entweder weiter arbeiten, oder du bist platt.“ Diese Partie fordere alles von einem – nicht nur körperlich, sondern auch geistig. Rutherford: „Man sagt, dass man als Sachs mehr Text hat als Hamlet oder König Lear – und das noch in einer Sprache, die nicht deine Muttersprache ist.“ Abgesehen von den ersten zwanzig Minuten ist er ständig auf der Bühne – und muss bei jeder Probe ran. Das strengt an. Und kostet Zeit. Deshalb ist auch die Familie nicht dabei.

Und dann verrät Rutherford, wie er sich auf eine Premiere oder andere Aufführungen vorbereitet: „Ich versuche eigentlich alles ganz normal zu halten. Zunächst: Am Abend vorher trinkt man nicht unbedingt eine Flasche Wein. Gut schlafen, ein großer Teller Nudeln um die Mittagszeit, sich mental darauf einstellen.“ Irgendwelche Rituale? Die Nudeln eben. Und, weil er keinen Kaffee trinkt, eine Dose Red Bull in der Pause vor dem dritten Akt. Das verleiht dem Sachs Flügel. Aber das Wichtigste für ihn ist, jeden Akt als eigene Oper anzusehen: „Nach dem ersten Aufzug – abhaken. Sich vorstellen, es käme eine neue Oper. Das gibt mir auf jeden Fall die Energie, die ich für diese Partie brauche – und hilft mir, mich selbst auszutricksen“, sagt Rutherford.

Lesen, was die anderen tun

Ob einer wie er auf Facebook unterwegs ist? „Ja“, sagt Rutherford, „allerdings schreibe ich selbst nicht viel, sondern lese lieber, was die anderen machen.“ Witzig findet er dabei, dass ihm Facebook Leute vorschlage, die er kennen könnte. Und die er kennt. Von seinen CDs, von Aufführungen. Aber dass daraus gleich Freunde werden sollen, das findet er doch erstaunlich.

Eine Frage, die man wohl jedem Engländer stellen muss: Wie er es mit dem Fußball hält? Natürlich ist er Fan, natürlich liebt er den Fußball. Umso schlimmer sei es im vergangenen Jahr gewesen: „Jeder mokierte sich darüber, dass England bei der Weltmeisterschaft so früh ausgeschieden ist. Und machte Witze über das Team. Das hat schon wehgetan“, sagt Rutherford schmunzelnd. Was ihn dagegen gefreut hat: „Seit der WM 2006 feiern die deutschen Fans wieder ausgelassen mit ihren Fahnen. Und dieses neue, unschuldige Nationalgefühl, das dabei mitschwingt, ist etwas Tolles – zumal für uns Engländer.“ Weil in England noch immer merkwürdige Bilder von den Deutschen kursieren, wie Rutherford einräumt.

Welchen Traum ein Sänger wie Rutherford träumt? „Ich will schreiben!“ Andere nähen oder stricken, wenn sie mal nichts zu tun haben, er plant ein eigenes Buch. Der Inhalt? „Ein Thriller, vielleicht eine Spionagegeschichte. Einfach mal in eine andere Welt flüchten.“ Weitere Fluchtpunkte eines reisenden Sängers? „Ein ganz normaler Film – gerne mit Arnold Schwarzenegger.“ Musik taugt ihm übrigens nicht zur Entspannung: „Wenn ich Musik höre, ist das Arbeit. Dann höre ich zu – aber kann nicht abschalten. Da erwische ich mich eher dabei, wie ich die Kollegen bewerte. Deshalb gehe ich auch selten in die Oper.“