Weniger Suizide in der Psychiatrie

Von Andrea Pauly

Auch in der Psychiatrie sterben Menschen, weil sie sich das Leben nehmen. Welche Auswirkungen hat das auf Angehörige und Therapeuten? Und wie sind solche Todesfälle zu verhindern?

 
Schließen

Diesen Artikel teilen

Fragen nach Leben und Tod, Suizid und Lebensverlängerung um jeden Preis stellt Nikolas Schneider in Bad Alexandersbad. Foto: dpa

"Suizidalität ist die Frage nach dem Sinn des eigenen Lebens", sagt Professor Manfred Wolfersdorf,  Ärztlicher Direktor des Bezirkskrankenhauses. Und diese Frage stellt sich das Gros der Patienten in der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des BKH: Etwa 60 Prozent haben eine Suizid-Idee - das heißt, sie haben zumindest einen Todeswunsch. Ein Fünftel der Patienten der Klinik hat tatsächlich versucht, sich das Leben zu nehmen.

Nach der Werbung weiterlesen

Angehörige erstmals im Fokus

Mit zwei Aspekten des Selbstmordes haben sich knapp 100 Ärzte, Psychologen und Pfleger aus 22 psychiatrischen Kliniken in dieser Woche in Bayreuth befasst: mit der Prävention und mit der Wirkung, die ein Suizid auf die zurückbleibenden Angehörigen und Therapeuten hat.

Zum ersten Mal standen in einer Studie nicht suizidale Patienten, sondern ihre Angehörigen im Mittelpunkt: Der Salzburger Professor Friedrich Wurst hat mit Unterstützung des Bayreuther Vereins Angehörige um Suizid (Agus) untersucht, wie sich die Selbsttötung eines nahestehenden Menschen emotional auf sie auswirkt und wie sie diese Erfahrung verarbeiten. Dafür haben er und sein Team die Angaben von Mitgliedern verschiedener Selbsthilfegruppen ausgewertet. "Sowas gab es noch nie."

Konstant hohe Traurigkeit

Ein Ergebnis hat Professor Wurst überrascht: "Besonders erdrückend ist die konstant hohe Traurigkeit." Die Gesamtbelastung durch den Suizid eines nahestehenden Menschen gaben die Befragten mit Hilfe einer Skala an, die von Null bis Hundert reicht. Der Durchschnitt war mit 98 von 100 möglichen Punkten unerwartet hoch, sagt Wurst: "Das ist wie vor die Wand gefahren." Mütter leiden besonders: Beim Großteil der Befragten, die auch nach einem Jahr noch eine Selbsthilfegruppe besuchten, hatte sich ein Sohn das Leben genommen. 

Professioneller Abstand

Auch Therapeuten sind persönlich und menschlich betroffen, wenn sich ein Patient umbringt. Allerdings schätzen sie ihre Gesamtbelastung um etwa ein Drittel niedriger ein. Durch ihre eigene Fachkenntnis und die Aufarbeitung im Kollegenkreis gewinnen sie den nötigen professionellen Abstand, sagt der leitende Oberarzt Dr. Michael Purucker. "Und wir freuen uns an allen, denen wir helfen können."

Wir wirken Räume?

Der Fokus der Tagung lag auf der Prävention, also der Verhinderung von Suiziden, in psychiatrischen Einrichtungen. Damit befassten sich verschiedene Vorträge, von der Wirkung von Räumen über den Übergang von stationärer in ambulante Behandlung bis hin zur Eins-zu-eins-Betreuung bei besonders hoher Suizidgefahr. Eine der Kernaussagen des Forums: Die wichtigste Therapie ist und bleibt das persönliche Gespräch mit dem Patienten.

Reden ist auch im privaten Umfeld von großer Bedeutung. Denn Prävention beginnt schon dort. "Hören Sie auf Ihr Gefühl", rät Friedrich Wurst allen, die fürchten, ein Familienmitglied oder Freund könne Suizidgedanken haben. Wenn der Ehemann merkwürdig ruhig, der Großvater auffallend anders sei als sonst, sollten Angehörige dies ansprechen und nachfragen. Dafür gebe es in Bayreuth ein gutes Netz an Hilfsangeboten - nicht nur die Klinik, sagt Purucker.

Wechsel an der Spitze

Friedrich Martin Wurst ist neuer Sprecher der Arbeitsgruppe "Suizidalität und psychiatrisches Krankenhaus". Er löst Manfred Wolfersdorf ab, der die AG 1979 mitgegründet hat. Auch wenn die Zahl der Suizde in psychiatrischen Klinken seither um 75 Prozent gesunken ist, zweifelt Wurst nicht an der Bedeutung der Arbeitsgruppe: "Wenn wir aufhören würden, wäre die positive Entwicklung in fünf Jahren vorbei." Ebenso wie Wolfersdorf zeigt er sich überzeugt davon, dass die Erfolge in der Suizidprävention nicht nur in therapeutischen Konzepten und passender Medikation begründet liegen, sondern in so genannten "Awareness"-Programmen, die Aufmerksamkeit auf das Thema lenken.