Ein Großteil der mittelalterlichen Geschichte Norwegens ist aus einem einzigen Text bekannt: der Sverris-Saga, der Hauptquelle zur Vita des norwegischen Königs Sverre Sigurdsson (1151-1202).
Vor 800 Jahren sollen Angreifer einen toten Mann in den Brunnen der norwegischen Sverresborg geworfen haben, um die Hauptwasserquelle zu vergiften. 1938 fanden Archäologen menschliche Knochen in dem Brunnen. Nun hat das Skelett auch seine genetischen Geheimnisse preisgegeben.
Ein Großteil der mittelalterlichen Geschichte Norwegens ist aus einem einzigen Text bekannt: der Sverris-Saga, der Hauptquelle zur Vita des norwegischen Königs Sverre Sigurdsson (1151-1202).
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Autor der Saga soll der Überlieferung nach der isländische Abt des Klosters Thingeyrar Karl Jónsson sein. Als Zeitraum der Abfassung werden die Jahre zwischen 1185 und 1188 angenommen, als sich Jónsson in Norwegen bei König Sverre Sigurdssonaufhielt. Geschildert wird sein Aufstieg und die damit verbundenen Machtkämpfe- und Kriege, von Beginn seiner Herrschaft 1177 bis zu seinem Tod im Jahr 1202.
Während Sigurdssons Herrschaft soll es immer wieder zu Bürgerkriegen und Konflikten gekommen sein, unter anderem mit den kirchenhörigen Baglern. Ein besonders spektakulärer Vorfall zwischen Baglern und Sigurdssons Männern soll sich im Jahr 1197 auf der Sverresborg in der Nähe des heutigen Trondheim ereignet haben.
Laut der Sverris-Saga ist das Bagler-Heer damals durch eine Geheimtür in die Sverresborg eingedrungen und hat von dort aus die gesamte Festung geplündert und gebrandschatzt.
Um sie endgültig unbewohnbar zu machen, gingen die Bagler noch einen Schritt weiter: „Sie nahmen einen toten Mann und warfen ihn in den Brunnen, den sie dann mit Steinen füllten“, heißt es in der Sverris-Saga. Wahrscheinlich wollten die Angreifer so die Hauptwasserquelle der Sverresborg vergiften.
Im Jahre 1938 wurden bei Ausgrabungen an der Burg tatsächlich lädierte, menschliche Überreste im ehemaligen Brunnen entdeckt. Zum ersten Mal hatten Archäologen eine der in der Sverris-Saga erwähnten Personen gefunden. Schädel und linker Arm des „Brunnenmann“ getauften Toten waren abgetrennt, sein Schädel durch mehrere Schläge – unter anderem mit einer scharfen Waffe – gezeichnet.
Viel mehr als den "Brunnenmann" äußerlich zu beschreiben, war mit den wissenschaftlichen Methoden der damaligen Zeit allerdings nicht möglich. Erst im Jahr 2016 konnten erste osteologische Analysen durchgeführt werden, die den Toten als 30 bis 40 Jahre alten Mann identifizierten.
Nun haben Forscher um Martin Ellegaard von der Technisch-Naturwissenschaftlichen Universität Norwegens im Rahmen genetischer Analysen von Zahnproben auch die letzten verbliebenen Geheimnisse des vor 800 Jahren verstorbenen Mannes gelüftet. Ihre Studie ist im Fachmagazin „Science“ erschienen.
Die DNA-Analyse zeigt: Der Tote hatte höchstwahrscheinlich blaue Augen sowie blondes bis hellbraunes Haar und stammte wahrscheinlich aus der südlichsten norwegischen Grafschaft (heute Vest-Agder).
Diese Herkunft überraschte die Archäologen, denn damit kam der Tote aus demselben Gebiet wie die Bagler-Armee und könnte einst einer der Angreifer gewesen sein. Zuvor hatte man den Brunnenmann für einen von Sigurdssons Männern gehalten, der in der Schlacht um die Sverresborg gefallen war.
Ob der "Brunnenmann" vor seinem Tod an Krankheiten litt – und deshalb von den Baglern als umso geeignetere „Biowaffe“ angesehen wurde – lässt sich indes nicht mehr feststellen.
Denn um zu garantieren, dass die Archäologen ausschließlich die DNA des Zahnbesitzers analysierten und nicht aus Versehen die von Personen, die den Zahn nur in der Hand gehalten hatten, musste das Team den Zahnschmelz entfernen. Doch genau dieser hätte Aufschluss über die Krankheitsgeschichte des "Brunnenmannes" geben können.
Die DNA des Toten zeigt, dass eine einzigartige genetische Drift, die bei den heutigen Südnorwegern zu beobachten ist, offenbar auch schon vor 800 Jahren bestand.
„Dies hat Auswirkungen auf unser Verständnis der norwegischen Bevölkerungsgeschichte, da es bedeutet, dass diese Region nicht nur seit dieser Zeit relativ isoliert gewesen sein muss, sondern auch für mindestens einige hundert Jahre davor, vielleicht sogar länger“, schreiben Ellegaard und seine Kollegen.