Dann nämlich finden in der Türkei Präsidentschafts- und Parlamentswahlen statt. Erdogan, seit gut 20 Jahren der starke Mann in Ankara, will sich dabei erneut wählen lassen. Umfragen versprechen ihm derzeit aber keinen klaren Wahlerfolg - und da könnte dem 68 Jahre alten Staatschef der Nato-Streit gelegen kommen. Beobachter unterstellen Erdogan seit längerem, die Geschehnisse auch für innenpolitische Zwecke zu nutzen. Außenpolitische Krisen lassen das religiös-nationalistische türkische Lager allgemein zusammenrücken. Es sind mögliche Stimmen, die der Präsident bitter nötig hat.
Nun hat Erdogan die Tür für die Schweden vorerst zugeschlagen, sie dabei aber nicht unbedingt endgültig verschlossen. Er ist bekannt dafür, sich international in den Weg zu stellen, dann aber zu gegebenem Zeitpunkt und nach Zugeständnissen der Verhandlungspartner doch einzulenken. Nicht nur im hohen Norden Europas wird deshalb vermutet, dass Erdogan den Nato-Streit bewusst in den türkischen Wahlkampf trägt, sich damit die Wiederwahl zu sichern versucht und dann doch grünes Licht für die Nato-Norderweiterung gibt. Als geeigneter Zeitpunkt wird dafür etwa der Nato-Gipfel Mitte Juli in Vilnius betrachtet - zwei Monate nach der Wahl in der Türkei.
Finnland öffnet sich für mögliche Nato-Mitgliedschaft ohne Schweden
Bis dahin versuchen die Schweden und Finnen, trotz aller Unannehmlichkeiten weiter Ruhe zu bewahren. Der schwedische Außenminister Tobias Billström erklärte, vor einer Reaktion auf Erdogans Aussagen genauer verstehen zu wollen, was gesagt worden sei. Die schwedische Botschaft in Ankara blieb derweil am Dienstag wegen erwarteter Demonstrationen vor dem Gebäude geschlossen.
Billströms finnischer Amtskollege Haavisto stieß erstmals die Tür dazu auf, dass sein Land unter Umständen dazu gezwungen sein könnte, einen Nato-Beitritt ohne seinen langjährigen Verbündeten Schweden in Betracht zu ziehen. Man müsse bereit sein, die Situation neu zu bewerten, wenn sich herausstelle, dass der schwedische Antrag langfristig festhänge, sagte er dem finnischen Rundfunk.
Später beteuerte er aber vor finnischen Reportern, Finnlands Linie habe sich nicht verändert: Trotz aller Hindernisse setze man die gemeinsame Nato-Reise mit Schweden fort und wolle nach wie vor zeitgleich Mitglied werden. Einen Plan B, so Haavisto, gebe es nicht.
Müssen Schweden und Finnland nun also monatelang nach Erdogans Pfeife tanzen, nachdem sie ihm bereits in mehreren Punkten entgegengekommen sind? Mitnichten. Dank Sicherheitsgarantien anderer Nato-Verbündeter sind sie nicht gezwungen, voreilig zu agieren. Vielmehr können die Nordlichter etwas Druck aus der aufgeheizten Lage nehmen. Das verschafft ihnen auch einen Hebel: Sollten sie sich entschließen, die Verhandlungen mit Ankara bis nach den Wahlen in der Türkei auf Eis zu legen, dann könnte Erdogan damit wichtiges Pulver für den Wahlkampf verlieren. Die stärkste türkische Oppositionspartei hat bereits deutlich gemacht, sich einer Nato-Norderweiterung unter keinen Umständen in den Weg zu stellen.
Haavisto sprach am Dienstag von der Möglichkeit, eine Pause bei den finnisch-schwedisch-türkischen Gesprächen einzulegen. Ein nächstes Treffen werde sich vermutlich um Wochen verzögern. Der finnische Präsident Sauli Niinistö sagte derweil laut Yle bei einem Besuch in Kiew, man müsse in Sachen Nato-Prozess am Ball bleiben - und nun zunächst auf die Wahlergebnisse in der Türkei warten.