Der normale Betrachter dürfte es mit dem deutschen Denker Arthur Schopenhauer (1788-1860) und seinem ironischen Diktum halten: Die Philosophie sei „zuvörderst ein Ungeheuer mit vielen Köpfen, deren jeder eine andere Sprache redet“.
„Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ Dieser Leitspruch der Aufklärung ist angesichts zunehmend irrationaler und populistischer Tendenzen in Gesellschaft und Politik dringlicher denn je. Umso so wichtiger ist es auch, den Philosophen in jedem von uns zu entdecken und das Denken nicht anderen zu überlassen.
Der normale Betrachter dürfte es mit dem deutschen Denker Arthur Schopenhauer (1788-1860) und seinem ironischen Diktum halten: Die Philosophie sei „zuvörderst ein Ungeheuer mit vielen Köpfen, deren jeder eine andere Sprache redet“.
Nach der Werbung weiterlesen
Oder um mit Karl Marx (1818-1883), dem Begründer des dialektischen Materialismus, zu sprechen: Das „Elend der Philosophie“ bestehe darin, dass sie „hohles Geschwätz“ sei. Man könnte ergänzen: Philosophie ist weltfremd und abgehoben, verkopft und sinnlos. Diese Liste mit Negativ-Attributen ließe sich mühelos fortsetzen.
Was also ist Philosophie? Was heißt es, ein Philosoph zu sein? Und was bedeutet Philosophieren? Eine Anleitung zum philosophischen Denken in 14 Schritten:
Wie einst Diogenes von Sinope (410-323 v. Chr.) in seiner Tonne sitzt der Philosoph von heute im Elfenbeinturm der Wissenschaft, abgeschieden und unberührt von den Irrungen und Wirrungen der Welt und brütet über Gott und die Welt. So ein weit verbreitetes Klischee.
Slavoj Žižek (1949 geboren im slowenischen Ljubljana), einer der populärsten zeitgenössischen Denker aus Slowenien, formuliert den Sinn des Philosophierens so: „Es ist im Kern das, was wir fanatischen Philosophen wirklich denken: Dass die Realität nur existiert, damit wir Bücher darüber schreiben können.“
Nun ist der slowenische postmarxistische Gesellschaftskritiker über jeden Verdacht erhaben, sich vor der chaotischen Realität ins intellektuelle Nirwana zu flüchten. Was Žižek meint, ist dies: Um die Welt zu gestalten, muss man sie deuten. Der 74-jährige Denker verweist auf die „kognitiven Landkarten“, die den Menschen die Richtung zeigen und einen Überblick geben, wo die Geschichte hingeht und was heute geschieht.
Wie verhalten sich Denken und Handeln, Erkenntnis und Interesse, Gedanke und Erfahrung zueinander? Karl Marx, der Vater des Dialektischen Materialismus, spricht von einer Wechselbeziehung von geistigem Überbau und realer Basis. Sein und Bewusstsein bedingen und durchdringen einander, so dass nur das wechselseitige Miteinander – die dialektische Synthese von These und Antithese – die geschichtliche Wirklichkeit bildet und die gesellschaftliche Entwicklung vorantreibt.
Ohne geistige Durchdringung des Realen wird alles Planen und Handeln zum unkoordinierten, konfusen Agieren. Ohne Realitätsbezug und den Willen zur Veränderung wird alles Denken zur fruchtlosen Spekulation.
„Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert“, lautet sein Generalverdacht gegen die Denkerzunft. "Es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“ Dabei ist das Werk des Begründers des Marxismus das beste Beispiel dafür, wie ein für Normalsterbliche weitgehend unverständliches Gedankengebäude den Geschichtsverlauf radikal verändern kann.
Als „Liebe zur Weisheit“ - das bedeutet die wörtliche Übersetzung des griechischen Wortes „philosophia“ - geht es der Philosophie weder um das alltägliche Kleinklein noch um die Detailversessenheit anderer Wissenschaften, sondern um Grundsätzliches: Sie stellt sich grundlegenden Fragen und beantwortet diese ebenso grundlegend.
Insofern ist die Philosophie als Grundlagenwissenschaft die Basis aller Wissenschaften und aller Lebenspraxis, auch wenn der Laie das vielen philosophischen Texten - zumeist aufgrund von sprachlichen Verstehensschwierigkeiten - gar nicht anmerkt.
Der deutsche Philosoph Immanuel Kant (1727-1804) fasst das weite „Feld der Philosophie“ in vier zentralen Fragen zusammen: „Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch?“
Die erste Frage beantworte die Metaphysik, die zweite die Moral, die dritte die Religion und die vierte die Anthropologie. „Im Grunde“, so der Großdenker der Aufklärung, „könnte man aber alles dieses zur Anthropologie rechnen, weil sich die drei ersten Fragen auf die letzte beziehen.“
Philosophieren ist nichts Exklusives, sondern durch und durch alltagsbezogen. Jeder Mensch philosophiert – mehr oder weniger – bewusst. Wir alle haben philosophische Überzeugungen. Die Philosophie beschäftigt sich mit Sachverhalten, die banal und selbstverständlich erscheinen und von den meisten nicht hinterfragt werden.
Wenn sich jemand wundert, warum seine Existenz so verläuft, ob sie den eigenen Wünschen und Träumen entspricht, ob er sie als erfüllt oder gescheitert erfährt, dann steckt er schon mitten im Prozess des Philosophierens.
"Das Leben selbst zwingt uns zum Philosophieren“, meint Matthias C. Müller (1970 geboren), der seine philosophische Leidenschaft zum Beruf gemacht hat und im Jahr 2005 in Stuttgart und Berlin einen „Philosophischen Garten“ gründete - und seitdem kultiviert.
„Deshalb sind wir alle Philosophen, sind es nur nicht unbedingt mit der Ausdauer und der Konsequenz professioneller Philosophen", sagt Müller. "Das Besondere an der Philosophie ist, dass sie den alltäglichen Ablauf des Lebens und den zunächst selbstverständlich scheinenden Zustand der Welt in Frage stellt.“
Viele würden in der Philosophie ein harmloses, aber letztlich nutzloses Gedankenspiel sehen, „das aus Haarspaltereien und Streitigkeiten über Dinge besteht, über die wir ohnehin nichts wissen können“, bemerkte der britische Mathematiker und Philosoph Bertrand Russell (1872-1970) einmal süffisant.
Ein voreiliger Schluss. Denn Philosophie geht jeden an – sogar ihre Verächter. „Worum es geht, ist zu zeigen, wie die Komplikationen, die die Philosophie aufzeigt, nicht etwas dem Menschen Fremdes sind, sondern etwas, das zu ihm gehört“, betont Žižek. „Wenn Du die Philosophie nicht verstehst, heißt das, dass Du einen Teil Deiner selbst nicht verstehst.“
Die Philosophie ist eine Schule des Denkens. Behauptungen werden einer kritischen Prüfung unterzogen, die eigenen Positionen rational begründet und nachvollziehbare Gründe vorgebracht, damit das, was man sagt, auch wahr und nicht bar jeder Logik und Sinnhaftigkeit ist.
Der französische Philosoph René Descartes (1596-1650) hat für diese „Methode, richtig zu denken“ (seine 1637 erschienene Schrift „Discours de la mèthode“ ist eines der bahnbrechenden Werke in der Philosophiegeschichte) vier Regeln aufgestellt, von denen die erste lautet: „Akzeptiere nur als wahr, was unbezweifelbar gewiss ist.“
Folglich solle man niemals eine Sache für wahr und richtig halten, ohne sie vorher eingehend zu prüfen und die Sachlage zu kennen, um voreilige Schlüsse zu vermeiden. Wer Descartes‘ Rat befolgt, wird nicht so schnell auf die verlockenden Tricks von Demagogen und Quacksalbern, Lifestyle-Blendern und Vernunft-Leugnern hereinfallen.
Sich mit der Philosophie und ihren Disziplinen, ihrer Geschichte und ihren Meisterdenkern auseinanderzusetzen, ist niemals und für niemanden vertane Zeit. Man lernt dabei das methodisch-systematische Fragen, bei dem man sich ausschließlich der Vernunft bedien-. Um die Welt mit den Mitteln von Begriffen, Argumenten und Erfahrungen zu ergründen und zu begründen.
Für den britischen Philosophen John Locke (1632-1704) ist die Fähigkeit zum kritischen und logischen Denken das, was die Essenz des Menschen ausmacht. Als „ein denkendes intelligentes Wesen, das Vernunft und Reflexion besitzt und sich als sich selbst denken kann“.
„Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen.“ Mit diesem Satz beginnt die br+hmte „Metaphysik“, eines der Hauptwerke des griechischen Philosophen Aristoteles (384-322 v. Chr.). Wissbegier ist für den Schüler Platons eine natürliche Antriebskraft des Menschen. Wenn man politische Debatten verfolgt, kann man daran nicht selten berechtigte Zweifel haben:
Ein Beispiel aus dem vergangenen Jahrzehnt, das immer noch nachhallt und derzeit wiederauflebt: Die Zuwanderung Hunderttausender Menschen aus Krisen- und Kriegsländern hat zu einem Erstarken rechter Parteien und einem ideologisch aufgeladenen Block-Denken geführt: links gegen rechts, liberal gegen konservativ, offene Grenzen gegen Abschottung, „Wir schaffen das“ gegen „Das Boot ist voll“.
Die Wahlerfolge der Rechtspopulisten in Deutschland und anderen Ländern Europas haben auch damit zu tun, dass viele Menschen sich vor Veränderungen fürchten und der Illusion hingeben, alles könne so weitergehen wie bisher. Viele bevorzugen es, quasi bevormundet zu werden und lieber dort zu verbleiben, wo sie sich sicher fühlen als sich der Ungewissheit und dem Wagnis eigenen Nachdenkens und gesellschatlicher Veränderung zu stellen.
Was kann Philosophie hier leisten? Wie kann sie dazu beitragen, dass wir Vorurteile hinterfragen, Argumente prüfen, Parolen anzweifeln und Verschwörungstheorien abweisen? Jeder ist gefordert sich auf die Suche nach Wahrheit und Erkenntnis zu machen. Nach Ansicht von Slavoj Žižek beginnt die philosophische Weisheit dort, wo man anfängt über die eigenen Gewohnheiten zu staunen und die existierenden Probleme und Dilemma immer wieder im neuen Licht zu sehen. „Genau das ist im Wesentlichen die Aufgabe der Philosophie.“
Philosophie ist demnach eine Lebenseinstellung, ein Daseinskonzept, eine Grundhaltung. Sie setzt Offenheit und Neugier, die Fähigkeit zur (Selbst)-kritik und Bereitschaft zur Veränderung voraus. Philosophische Tugenden sind kein Privileg von wenigen Intellektuellen, sondern Basis-Koordinaten des Menschseins. Dogmatismus, geistige Erstarrung und intellektuelle Selbstgefälligkeit sind der Feind jeden philosophischen Denkens, das ebenso anregend wie verwirrend sein kann.
Der sichere Boden unter den Füßen kann sich ganz schnell auflösen und plötzlich steht man vor einem Abgrund. Doch das Risiko Fragen zu stellen, lohnt sich. Genauso, wie das Nachdenken einzuüben und zu praktizieren statt vorgefertigte Phrasen einfach nur wiederzukäuen.
Philosophieren ist in der Tat eine strapaziöse Angelegenheit. Es bedeutet auf geistiges Fast-Food zu verzichten und selbstverantwortlich zu denken und zu handeln. „Sapere aude“ („Wage es, weise zu sein“): Dieses Sprichwort des römischen Dichters Horaz (65-8 v. Chr.), erklärte Immanuel Kant im Jahr 1784 zum Leitspruch der Aufklärung und zum Grundsatz der Philosophie: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ Nur so könne der Mensch sich „aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“ befreien.
Um das zu erreichen, muss der Mensch Zeit seines Lebens das Denken erlernen, Offenheit einüben und sich die Fähigkeit zum Staunen bewahren. Wer all dies beherzigt, hat das Zeug zu einem echten Philosophen – auch ohne akademischen Titel, große Bibliothek und Fachkauderwelsch.
Der Weg zur Philosophie führt über die kritische Prüfung von Erkenntnis und Erfahrung. „Ohne radikalen Zweifel kein wahrhaftiges Philosophieren“, betont der deutsche Philosoph Karl Jaspers (1883-1969). Kritisches, logisches und systematisches Denken ist dabei sehr nützlich, weil es hilft die Absichten der Anderen zu durchschauen. Auch im Alltag – bei der Stimmabgabe in der Wahlkabine und beim Kauf eines Gebrauchtwagens genauso wie beim Abschluss einer Versicherung und bei politischen Diskussionen – kann dies von Vorteil sein.
Philosophische Fertigkeiten helfen zudem sich in den Grenzsituationen des Lebens zu bewähren. „Situationen“, wie Jaspers erklärt, „über die wir nicht hinaus können, die wir nicht verändern können. Die Grenzsituationen – Tod, Zufall, Schuld und die Unzuverlässigkeit der Welt – zeigen mir das Scheitern“. Es sind Situationen, die zum Nachdenken und Hinterfragen anregen. Und das wiederum bedeutet nichts anderes als zu Philosophieren.
So wie jeder Einzelne der Philosophie bedarf, so essenziell ist der philosophische Diskurs für die gesamte Gesellschaft. Eine Gesellschaft, in der nicht mehr öffentlich über Grundsätzliches wie Gut und Böse, die Freiheit und Determination des Willens, das Glück des Einzelnen und der Gemeinschaft, der Gerechtigkeit von Staat und Gesellschaft, der Notwendigkeit und den Grenzen von Solidarität sowie der Unverletzlichkeit und Würde des Lebens nachgedacht wird - und vor allem werden darf -, droht zu erstarren und von innen abzusterben.
„Ich bin nur mit dem anderen, allein bin ich nichts“, betont Karl Jaspers, ein prominenter Vertreter der in der Mitte des 20. Jahrhunderts populären Existenzphilosophie. Mit dem anderen sein kann man aber nur, wenn man die Meinung des anderen und offene Kommunikation zulässt und fördert.
Autokraten wie der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan oder sein russischer Amtskollege Wladimir Putin halten davon offenkundig wenig. Anderen die Meinung aufzudrücken und die Meinung anderer zu unterdrücken ist jedoch der Feind für eine offene Gesellschaft, wie schon der österreichisch-britische Philosoph und Erkenntnistheoretiker Karl Popper (1902-1994) wusste. Warum? Weil so Dialog und Kommunikation, die Schmiermittel jeder lebendigen Demokratie und jedes authentischen Philosophierens verhindert werden.
Aus Sicht der Philosophie kann gar nicht genug gestritten, hinterfragt und kritisiert werden. Nicht die kontroversen, aufgeregten und bisweilen an gesellschaftliche Panikattacken grenzenden Diskurse etwa im Gefolge der Euro- und Flüchtlingskrise sind das Problem, sondern die Sprachlosigkeit, Unfähigkeit zur Kommunikation und der Selbstbetrug, dass nur ein Weg zum Ziel führt – nämlich immer der eigene.
Weder dem türkischen noch dem russischen Präsidenten wird man ernsthaft unterstellen, sie hätten einen ausgeprägten Hang zum Philosophieren. Zumindest, wenn man sie und ihr Handeln an dem misst, was laut Karl Japsers den Menschen erst zum Philosophen macht. „Wer meint alles zu durchschauen, philosophiert nicht mehr. Wer nicht mehr staunt, fragt nicht mehr. Wer kein Geheimnis mehr kennt, sucht nicht mehr.“