Geklagt wird in den USA immer schnell und viel. In den allermeisten Wahljahren, wenn ein Kandidat einen guten Vorsprung hat, könnten ein oder zwei Klagen nicht den Wahlausgang beeinflussen. Angesichts der absehbar knappen Ergebnisse in Staaten wie Wisconsin, Michigan, Georgia und Pennsylvania könnte das in diesem Jahr anders sein. Wegen des Mehrheitswahlrechts kann sich ein Kandidat einen Bundesstaat theoretisch schon mit einer Stimme Vorsprung sichern.
TRUMP WITTERT BETRUG
„Stoppt die Auszählung“, forderte Trump am Donnerstag per Twitter, als Bidens immer mehr Stimmen zugesprochen wurden. Verbleibende und rechtmäßig abgegebene Stimmen nicht auszuzählen würde allerdings gegen geltendes Recht verstoßen. Bereits am Mittwoch hatte Trump mit Blick auf die Auszählung bereits von massivem Betrug gesprochen. „Sie finden überall Stimmen für Biden - in Pennsylvania, in Wisconsin und in Michigan. So schlecht für unser Land“, schrieb er auf Twitter. Experten und Studien zufolge ist Wahlbetrug in den USA aber extrem selten. Twitter versah mehrere Nachrichten Trumps umgehend mit einem Warnhinweis und schränkte damit auch die Möglichkeit der Weiterverbreitung der Tweets ein.
Trumps Wahlkampfteam kündigte an, in Wisconsin eine Neuauszählung der Stimmen zu beantragen. In Michigan reichten sie eine Klage ein, um die Auszählung zu stoppen. Genauso in Pennsylvania. Georgia folgte am Abend. Am Donnerstag (Ortszeit) sollte es auch noch eine „große Ankündigung“ für das weitere Vorgehen im westlichen Nevada geben. Ein Kandidat braucht zum Sieg bei der Präsidentenwahl 270 Stimmen aus den Bundesstaaten. Biden schien am Donnerstagmorgen schon fast an der Schwelle zu Sieg, es dürfte aber knapp werden. Falls Biden doch noch ein überzeugender Sieg gelingen sollte, wäre das von Klagen und Prozessen ausgehende Risiko natürlich deutlich geringer.
WERBEN UM SPENDEN FÜR PROZESSKOSTEN
Der Mehrheitsführer der Republikaner im Senat, Mitch McConnell, erklärte, dass er Trumps Ankündigung, den Kampf um die Wahl vor Gericht fortzusetzen, für unproblematisch halte. Bei einem knappen Wahlergebnis „ist das schon früher passiert und könnte auch dieses Mal passieren“, sagte der Trump-Vertraute. „Vor Gericht zu gehen, ist der Weg, wie wir Unsicherheiten auflösen.“ Die Demokraten warben sogleich um Spenden für Prozesskosten. Sie seien nach Trumps Drohungen „bereit, zurückzuschlagen“, schrieb Bidens Vize-Kandidatin Kamala Harris auf Twitter. „Unsere Arbeit könnte sich über Wochen hinziehen und wir brauchen Ihre Hilfe“, hieß es in dem Spendenaufruf.
TRUMP MIT HEIMVORTEIL BEIM OBERSTEN GERICHT
Demokraten und Republikaner hatten schon vor der Wahl zahlreiche Anwälte engagiert. Manche Klagen dürften durch alle Instanzen gefochten werden und könnten letztlich beim Obersten Gerichtshof in Washington, dem Supreme Court, landen. Dort hat Trump einen Heimvorteil: Sechs der neun auf Lebenszeit ernannten Richter gelten als konservativ, drei davon hat der Republikaner selbst nominiert.
Einige Klagen rund um die Wahl waren schon vor der Abstimmung bei den Richtern gelandet, dabei ging es zumeist um recht technische Fragen. Ein Streitthema war zum Beispiel die Frage, ob eine Frist zur Annahme von Stimmzetteln von einem Gericht geändert werden kann oder nur vom Parlament des betroffenen Bundesstaats. Bei den Entscheidungen der Richter ließ sich in der Summe keine klare parteiliche Tendenz erkennen. Die erst Ende Oktober ernannte konservative Richterin Amy Coney Barrett enthielt sich bei mehreren Entscheidungen. Bei einer Entscheidung zur Annahme von Briefwahlunterlagen in Pennsylvania nach dem Wahltag behielten sich die Richter aber ausdrücklich vor, sich der Frage nach der Abstimmung möglicherweise nochmal zu widmen.
ERINNERUNG AN DIE WAHL 2000
Das ist für manche Beobachter ein Alptraum: Was würde passieren, falls Biden Pennsylvania nur knapp mit Hilfe der verspätet eingetroffenen Briefwahlstimmen gewinnen würde? Falls die Richter die Stimmen für ungültig erklärten, verlöre Biden die 20 Wahlleute des Bundesstaats und damit womöglich die Wahl.
Es ist ein hypothetisches Szenario, aber es ist nicht aus der Luft gegriffen: So ähnlich war es 2000 passiert. Ob George W. Bush oder Al Gore der nächste Präsident würde, hing damals nur am Ergebnis im bevölkerungsreichen Bundesstaat Florida. Der Rechtsstreit um das Ergebnis und Neuauszählungen zog sich einen Monat hin, bis vor das Oberste Gericht. Danach räumte Gore seine Niederlage ein. Der Republikaner Bush gewann mit 537 Stimmen Vorsprung, sicherte sich die Stimmen der Wahlleute Floridas und wurde US-Präsident.
KLAGEN KÖNNTEN SPALTUNG DES LANDES VERTIEFEN
Trump hat schon vor der Wahl behauptet, er könne nur verlieren, falls es „massiven Wahlbetrug“ gebe. Es schien daher so gut wie ausgeschlossen, dass er kampflos seine Niederlage einräumen würde. Er wird jede Klage ausfechten lassen. Den USA drohen daher - inmitten der weiter virulenten Coronavirus-Pandemie - sehr unruhige Wochen. Die Spaltung des Landes in zwei verfeindete politische Lager dürfte sich weiter vertiefen, es könnte auch zu Protesten kommen.
Die Hängepartie könnte sich etwa einen Monat hinziehen: Die Bundesstaaten müssen ihre Endergebnisse bis zum 8. Dezember beglaubigen und nach Washington melden. Diese Frist, als „safe harbor“ bezeichnet (sicherer Hafen), war zum Beispiel im Jahr 2000 bei Gores Entscheidung, seine Niederlage einzuräumen, entscheidend. Sollte es über die Frist hinaus weiter Streit geben, könnte es recht kompliziert werden. Wirklich aufatmen dürften die Amerikaner daher wohl erst nächstes Jahr: Am 20. Januar muss der nächste Präsident vereidigt werden, so schreibt es das Gesetz vor.