Ukraine-Tagebuch „Baerbock ist hier ein Star“

Thomas Simmler mit Tochter Sofia und deren Mutter Irina. Foto: red/Thomas Neumann

Thomas Simmler stammt aus Mainleus. Seit Kriegsbeginn hält er sich bei seiner neunjährigen Tochter Sofia und deren Mutter Irina in der Südost-Ukraine auf. In unserer Zeitung erzählt er regelmäßig aus seinem Leben im Kriegsgebiet.

 
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Es ist völlig paradox: Einerseits gibt es wieder ein Stück weit ein normales Leben in unserer Stadt Marhanez. Es wird warm. Die Menschen können einkaufen, draußen einen Kaffee trinken und auf den Wiesen blüht der Raps. Gleichzeitig wappnen sich viele in für den Notfall. Wir auch. Wir wollen unbedingt einen Reisepass für unsere Tochter Sofia. Vor der Stadtverwaltung gibt es riesige Schlangen. Die Menschen stehen bis auf die Straße. Alle wollen diesen Pass. Manche stehen von Früh bis Abend, schaffen es aber nicht einmal bis ins Büro. Am nächsten Tag versuchen sie es wieder.

Man hört, dass die Leute aus dem Osten, also aus Mariupol oder Charkiw, problemlos über die Grenze kommen, wenn sie es in den Westen des Landes schaffen und nach Polen wollen. Auch ohne Reisepass. Anders sieht es für die aus, die nicht aus diesen Städten kommen, die die Russen so verwüstetet haben. Deshalb wollen wir Pässe, um flüchten zu können, wenn es bei uns schlimmer werden sollte. Irina hat es mehrere Tage versucht. Am Ende hatte sie Glück, weil sie eine wichtige Person dort kennt. Sie hat 1000 Hryvnja gezahlt, was umgerechnet 35 Euro sind und jetzt zumindest einen Antrag stellen können. Bei Sofia ist es zum Verzweifeln. Weil ich als ihr Vater Deutscher bin, stellen die Behörden ihr keinen ukrainischen Pass aus. Und das, obwohl ich eine Aufentshaltsgenehmigung habe, eben weil meine Tochter Ukrainerin ist. Man sieht: Die Bürokratie kann überall zum Problem werden.

Der Verlauf des Krieges hat die Menschen viel optimistischer werden lassen. Die ersten sechs Wochen waren die schwierigsten – und die Angst am größten. Jetzt sind alle davon überzeugt, dass die ukrainische Armee den Krieg gewinnt und die Russen zurückdrängt. Zumindest, wenn die USA und Europa uns weiter Waffen liefern.

Was hier alle wundert, sind die Diskussionen in Deutschland über die Politiker-Besuche. Hier hält niemand einen Besuch für überflüssig. Im Gegenteil, alle freuen sich darüber, wenn ein westlicher Politiker nach Kiew oder Butscha kommt. Und glauben sie mir: Kein Fernsehbericht kann einen Besuch ersetzen. Niemand reist hier mit dem gleichen Gefühl ab, wie er gekommen ist. Außenministerin Annalena Baerbock ist mittlerweile ein Star in der Ukraine. Sie hat den Menschen von Anfang an das Gefühl gegeben, dass sie ihr wichtig sind. Dafür sind alle sehr dankbar. Viel geringer ist das Ansehen für den Bundeskanzler. Sein zögerliches Verhalten kann hier kaum einer verstehen.

Protokoll: awu

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